Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

3. Das logische Denken

Pythagoras - Dimensionen

Pythagoras ging es nicht um eine objektive Wissenschaft, sondern um die Begründung der subjektiven Wahrheit, um die Gewinnung sicheren Wissens im Unterschied zur unverbindlichen Meinung.

Um dies zu verstehen, müssen wir die Entwicklung der archaischen Philosophie noch einmal aus einem anderen Gesichtspunkt wiederholen:

  1. Thales schuf in seinem Satz, dass alle Winkel im Halbkreis rechte sind, die erste Verallgemeinerung als Ursprung allen Denkens.
  2. Wenn alle Winkel rechte sind, wie steht es dann mit dem Übergang vom Winkel zum Durchmesser? Hierzu muss der Abstand unendlich klein werden, sich dem Kreisdurchmesser annähern. So schuf Anaximander die mathematische Anschauung der Unendlichkeit als Basis des Endlichen und erkannte in der Beziehung 0-1, Nichts-Etwas die Grundlage allen Denkens.
  3. Worin spielen sich Verallgemeinerung und Dialektik ab? Im Raum, der lufterfüllt ist, wobei alle Gegenstände durch Verdickung oder Verdünnung, durch quantitative Wandlung entstehen. Die Erkenntnis der Bedeutung der Quantität war das Verdienst des Anaximenes.
  4. Wenn aber die Quantität der Qualität zugrundeliegt, was ist diese selbst? Wasser und Luft sind anschaulich, der Übergang von endlich zu unendlich ist durch den thalesschen Kreis ebenfalls nachzuvollziehen. So musste auch die Zahl aus der Erfahrung abgeleitet werden, und damit wurde der letzte mythische Urgrund logifiziert: nach der Vereinigung von krumm und gerade, Kreis und Winkel (Yang und Yin) bei Thales, dem orphischen Wechsel zwischen Erscheinung und Kraft bei Anaximander, der Unendlichkeit der luftförmigen Welt bei Anaximenes entdeckte Pythagoras die raumzeitliche endliche Struktur der Tonzahl als Maßstab aller Naturgesetze, aus welcher dann die Mathematik abgeleitet wurde.

Um diese Ableitung aber bewusst zu machen, galt es den umgekehrten Weg zu gehen. Jede Tonzahl vereint Maß und Schwingung, Raum und Zeit. Daher ist also auch ihr Ursprung über Raum und Zeit zu verstehen. Mit diesem Gedankengang entwickelte Pythagoras eine Lehre von den Dimensionen, die auf uns nur in der verfremdeten Form Euklids gekommen ist. Sie lässt sich aber leicht aus den bisherigen Daten im Zusammenhang mit dem Chi rekonstruieren; ihre Parameter sind:

  • rechtwinklig und kreisförmig (Thales),
  • endlich und unendlich (Anaximander),
  • ausgedehnt und unausgedehnt (Anaximenes),
  • Ruhe und Bewegung, Raum und Zeit (Pythagoras).

Sie lassen sich in folgendem Kreis veranschaulichen:

D i m e n s i o n s k r e i s

  1. Die nullte Dimension umfasst räumlich die Punkte, zeitlich die Momente.
  2. Eine unendliche Anzahl von Punkten (in der Zeit aneinandergefügt) ergibt die endliche Strecke; unendlich viele zeitliche Momente (im durchschrittenen Weg räumlich betrachtet) ergeben eine Bahn.
  3. Räumlich: eine unendliche Anzahl von Linien, im rechten Winkel aneinandergereiht, fügen sich zur endlichen Fläche.
    Zeitlich: die Umdrehung einer Bahnlinie (1) um einen Punkt (0) durchschreiten flächig einen Umlauf.
  4. Räumlich: eine unendliche Anzahl von Flächen, senkrecht aufeinandergeschichtet, werden von einem endlichen Körper (Volumen) umfasst.
    Zeitlich: die Umdrehung einer Fläche (2) um eine Achse (1) füllt den Raum eines endlichen Körpers aus — eine einzige Umdrehung.
  5. Raumzeitlich: die unendlich vielen Körper stehen in einer endlichen Anzahl möglicher Beziehungen zueinander, die musikalisch durch die Intervalle erfasst werden. Damit sind wir bei der Wirklichkeit angelangt; die Begrenzung des Tetraktys zeigt auch hier ihre Berechtigung, denn über die Wirklichkeit hinaus kann keine Anschauung gehen.

Die nullte Dimension bestimmt die Möglichkeit, die Elementarcharakter hat; sie enthält die natürlichen Zahlen, deren Anschauung keinerlei Ausdehnung bedarf. Die vierte ist die Wirklichkeit, die nicht auf den Dingen, sondern deren Verhältnis zueinander beruht. Erste, zweite und dritte Dimension sind Abstraktionen des Bewusstseins. — Ihr Wert ist nur erkenntnistheoretisch, und die Bestimmung der dreidimensionalen Welt als Wirklichkeit durch Euklid war wohl der folgenschwerste Irrtum der europäischen Philosophie, der erst durch die einsteinsche Relativitätstheorie wieder eingerenkt worden ist.

Jede der Dimensionen wird zum Träger einer anderen Zahlenwelt: die nullte umfasst die natürlichen Zahlen, die erste die ganzen Zahlen, die zweite die rationalen Zahlen und Produkte, die dritte die Zahlenreihen und Proportionen, und die vierte die Tonzahlen und Intervalle. Diese Verhältnisse lassen sich allesamt aus dem Chi ablesen, dessen vollständige Rekonstruktion uns aber über den Rahmen der Geschichte hinausführen würde (dargestellt in meiner Klaviatur des Denkens).

Die naturwissenschaftliche Erfahrung der pythagoräischen Epoche war nicht reich genug, um für alle sich aus dem System ergebenden Theorien eine Beobachtung zu liefern. Es waren anstelle der geforderten zehn Himmelskörper nur sieben sichtbar; so erfanden die Pythagoreer hypothetische Himmelskörper, wie ein Zentralfeuer als Mitte des Systems und eine Gegenerde, die deshalb nicht sichtbar sei, weil sie sich immer hinter der Sonne verberge. Kühn ergänzten seine Schüler das Weltbild überall dort, wo die Erfahrung nicht mitkam. Vor allem blieb die Bestimmung der Zahlenqualitäten als Kategorien unbeweisbar und daher mythisch. So ist es kein Wunder, dass der pythagoräischen Schule bald Gegner erwuchsen, diese sich dagegen dogmatisch verhärtete, eine geschlossene Lebensgemeinschaft bildete, und schließlich, nachdem sie für kurze Zeit die Herrschaft in Kroton erreicht hatte, durch eine Revolution vertrieben wurde — und endlich als Bund verschwand; nur als geheime Bruderschaft bestand sie bis in die neuplatonische Periode weiter, von der ihre Tradition dann durch die islamischen Bruderschaften aufgenommen wurde.

Nach Ansicht heutiger Mathematiker wie Whitehead und Russell ist es nicht zu bezweifeln, dass Pythagoras nicht nur die Grundlagen der einfachen Mathematik schuf, sondern auch viele Entdeckungen der Neuzeit wie die Infinitesimalrechnung vorweggenommen hat. Seine größte Wirkung übte er jedoch auf die Architektur aus. Die Konstruktion der Tempel der klassischen Zeit, vor allem der Amphitheater mit ihrer perfekten Akustik, die sich heute nicht mehr erreichen lässt, setzt als Grundlage uns unbekannte Aspekte der pythagoräischen Lehre voraus. Und wir werden noch oft, vor allem in der islamischen und gnostischen Philosophie im Lauf unserer Geschichte pythagoräische Gedanken und Theorien finden, deren Bedeutung erst unser heutiges Wissen zu integrieren vermag.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
3. Das logische Denken
© 1998- Schule des Rades
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