Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
3. Das logische Denken
Parmenides - Zenon
Parmenides begann seine Lehre mit folgenden Gedanken: sie unterscheide sich von allen früheren dadurch, dass sie einzig und allein das Sein, das Bestehende als wirklich anerkenne und das Nichtsein ablehne. Sowohl Heraklit als auch die Pythagoreer wehrten sich gegen diesen Vorwurf; das Feuer als Ursprung der Wirklichkeit und des Werdens dürfe nicht als Nichtsein aufgefasst werden, und auch die Null des Pythagoras sei nicht der Gegensatz der Wirklichkeit, sondern bestimme deren Wurzel in der Möglichkeit. Aber Parmenides meinte etwas anderes: vor ihm hatte kein Philosoph den Begriff des Seins als Ansatz genommen und damit eine metaphysische Hypothese eingeführt. Das Unendliche des Anaximander war ein logisch-genetischer Begriff, und das Wasser des Thales, die Luft des Anaximenes, die Tonzahl des Pythagoras, das All-Eine des Xenophanes und das Feuer des Heraklit meinten alle konkrete Wesenheiten, die sich durch die Erfahrung nachprüfen ließen; auch der Logos des Heraklit war über die Mantik also das Orakel anzusprechen und zu befragen. Doch mit dem parmenidischen Sein kommen wir zu einer anderen Art des Denkens: sein Ansatz gründet sich auf die Tatsache, dass auf griechisch wie auf deutsch das Zeitwort sein zwei Bedeutungen hat, eine prädikative und eine substantielle. Die prädikative ordnet eine Eigenschaft einem Begriff zu; der Satz die Rose ist rot gilt unabhängig davon, ob ich eine Rose vor mir habe oder nicht; der Satz die Rose ist bedeutet, dass sie existiert, und zwar nicht nur in der Vorstellung oder in der Möglichkeit, sondern in der Wirklichkeit.
Hiermit gewann Parmenides unter Ablehnung des substantiellen Nichtseins einen seiner Ansicht nach untrüglichen Prüfstein der Wirklichkeit: eine Seinsaussage kann über die Prüfung ihrer sprachlichen Struktur klären, ob eine Behauptung wahr sein kann oder nicht. Er fand also im Sein den Grundstein dessen, was wir heute als logische Beweisführung bezeichnen: ein Kriterium zum Finden der Wahrheit.
Mit Parmenides wurde das logische Denken selbständig und löste sich aus der Identifikation mit der Erfahrung. Man mag die übrigen Vorsokratiker mit Menschen vergleichen, die von einem festen Standort aus Drachen steigen lassen und sich an deren Fliegen erfreuen. Parmenides wurde gleichsam selbst zum Drachen; er vertraute sich dem Flug der Gedanken an, einzig und allein den Begriff des Seins als Beweggrund und Leitfaden gebrauchend. Xenophanes hatte die Gesetze als das Ruhende definiert, das dem Wandel der mannigfaltigen Wirklichkeit zugrundeliege und daher den brauchbarsten Ansatzpunkt für die Erkenntnis liefern könne. Parmenides verstand, dass es der Begriff des Seins ist, der das Gesetz als ruhende und ewig gültige Beziehung dem Wandel überordnet.
Diese Auffassung war so neu und stand zu so vielen augenscheinlichen Erfahrungen im Widerspruch, vor allem der unbezweifelbaren Vergänglichkeit der Welt, der nun die Realität abgesprochen wurde, dass sie nicht nur Angriffen ausgesetzt war, sondern auch von vielen Seiten lächerlich gemacht wurde. Der Begriff sein bezeichnet sowohl prädikativ als auch existentiell die ruhende Beziehung, die jenseits von Raum und Zeit in der Ewigkeit gründet. Dies war für Parmenides die einzig echte und unzerstörbare Wahrheit. Aus dieser transzendentalen Auffassung verstehen wir nun auch, wieso der Schüler des Parmenides, Zenon von Elea, die aus dem Seinsbegriff entstehenden Paradoxien als Waffen benützte: in seinen berühmten Gleichnissen bewies dieser, dass der Bewegung kein Sein zukommt, sie also nicht geeignet wäre, den Menschen die Teilhabe an der Ewigkeit zu vermitteln: der fliegende Pfeil ruht in Wahrheit, weil er immer an seinem Ort ist. Achilles kann die Schildkröte niemals einholen, die vor ihm gestartet ist; denn wenn Achilles an dem Ort angelangt ist, an dem die Schildkröte vorher war, ist sie schon wieder ein Stück weitergekommen. Mit diesen sogenannten Aporien, die unlösbar schienen, wurde die naive Identifizierung von Wahrheit und äußerer Wirklichkeit aufgehoben. Wenn das Sein über die Wahrheit entscheidet — weil ein Satz wie jener, dass die Summe der Winkel im Dreieck 180° ist, ewig, unabhängig von Raum und Zeit gilt — dann muss das Werden der äußeren Wirklichkeit Schein bedeuten, also eine Illusion darstellen. Der Mensch kann nur in den unbestreitbaren Seinssätzen eine Basis finden, die ihn selbst dem Wandel überlegen macht, ihm also den Weg zur Wahrheit und damit der Ewigkeit eröffnet.
Seinssätze haben aber auch einen Inhalt. Was ist nun der Charakter dieses Inhalts? Wenn es gelänge, diesen zu bestimmen, dann könnte man der Wahrheit logisch näherkommen. Den Schlüssel zu dieser Annäherung bildet der Begriff des Elements als Urbaustein der Wirklichkeit: Empedokles fand die Urbausteine in den vier Elementen des kosmischen Denkens, Feuer, Erde, Wasser und Luft, Anaxagoras in der Dualität von Vernunft und einer unbegrenzten Vielheit verschiedener Urstoffe, die gleichsam den Samen unserer Wirklichkeit bilden, und schließlich Leukippos und Demokritos in den Atomen.