Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

3. Das logische Denken

Empedokles

Empedokles aus Agrigent in Sizilien, 495-435, lehrte, dass die vier Elemente oder Zustände zwei wesentlichen Richtungen unterliegen: der Liebe und dem Streit. Am Anfang einer Zeit seien sie alle in Zusammenhang, in Harmonie, an ihrem Ende getrennt und zerfallen. Hier hatte Empedokles nicht eine physikalische, sondern eine organische Vorstellung: Arme, Augen, Münder und Organe existierten gleichsam freischwebend in einem besonderen Medium, bis sie sich wieder in neuer Weltzeit zu neuen Organismen zusammenfügen.

Wir erkennen die Wirklichkeit, weil die Naturelemente in gleicher Weise wie in der Natur auch in uns sind. Hier zeigt sich Empedokles als Nachfolger des ägyptischen kosmischen Denkens, das die verschiedenen psychischen Zustände im Sinne der Tierkreiszeichen nach Feuer, Wasser, Erde und Luft mit den Naturelementen identifizierte. Bei den Ägyptern blieben diese Gedanken in das astralmythische Weltbild verwoben; Empedokles, der selbst praktischer Arzt war und die Überlieferung durch persönliche Beobachtung und Experiment vertiefte, entwickelte zusammen mit anderen aus diesem die Lehre von den vier Temperamenten, bei denen je eine andere körperliche Flüssigkeit in Entsprechung zu Naturelement, Tierkreiszeichen und psychischer Veranlagung steht:

  • bei Sanguinikern der Luftzeichen ist das Blut im Vordergrund; der Charakter ist lebhaft und optimistisch;
  • bei Phlegmatikern der Wasserzeichen ist es der Schleim; sie sind psychisch nicht leicht aus der Ruhe zu bringen.
  • Bei den Cholerikern der Feuerzeichen, die sich leicht aufregen, ist es die gelbe Galle,
  • und bei den schwermütigen Melancholikern der Erdzeichen die schwarze Galle.

Krankheit entsteht, wenn diese vier Säfte außer Gleichgewicht kommen, und es ist Aufgabe des Arztes, die Harmonie zwischen ihnen wieder herzustellen.

Wie die Natur, so steht auch der Mensch zwischen den beiden Tendenzen des Aufbaus und der Zerstörung, der Liebe und dem Streit. Wenn ein Mensch wirklich ganz von der vereinigenden Tendenz der Liebe durchdrungen werde, dann sei er nicht nur ein großer Heiler und Arzt, als welcher Empedokles überall verehrt wurde, sondern auch ein unsterblicher Heros im Sinne des mythischen Denkens.

Mit Einführung des Gegensatzes von Liebe und Streit als dynamischem Faktor kam Empedokles zum Ansatz einer Evolutionslehre. Alles habe sich aus den einfachsten Lebewesen entwickelt. Gleich den indischen Jainas war er deshalb strenger Vegetarier und Anhänger der Reinkarnationslehre: da sich alle Wesen in aufsteigender oder absteigender Ordnung wiederverkörpern, könne niemand wissen, ob das Tier, das er zu schlachten im Begriffe stehe, nicht seine verstorbene Mutter sei.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
3. Das logische Denken
© 1998- Schule des Rades
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