Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
3. Das logische Denken
Platon
Platon besaß das Wissen der Vorsokratiker mit Ausnahme der demokritischen atomistischen Richtung, die er nicht in sein Weltbild einbauen konnte; und auch die pythagoräische Tradition verstand er nicht bis ins letzte, obwohl er sich ihren Gedanken im Alter annäherte. Zu diesem Wissen, das er durch eigene Ideen und Forschungen zu einem ungeheuren Reichtum ergänzte, wechselte seine Einstellung im Laufe seiner Entwicklung: in der Jugend folgte er der dialektischen Philosophie des Sokrates, die er weiter entwickelte; als zweite Stufe kam er zur Erkenntnis seiner Ideenlehre; als drittes versuchte er in Zusammenarbeit mit Dion in Sizilien einen Staat im Einklang mit der Ideenwelt zu begründen; und die vierte Stufe brachte, nachdem alle Versuche der Staatsgründung gescheitert waren, die Darstellung des Mythos von Atlantis als Idealbild einer Polis, welches er bis in die letzten Einzelheiten als Vorbild künftiger Zeiten zu bestimmen versuchte.
Platon wurde 428 zu Athen geboren und war von seinem zwanzigsten Lebensjahr bis zum Todes des Sokrates dessen Schüler. Ursprünglich der Dichtung zuneigend, wandte er sich unter seinem Einfluss der Philosophie zu. Sein Grundbegriff war die Tugend, die Sokrates für lehrbar hielt. Aber lehrbar — im Sinne einer Wissenschaft — kann sie nur sein, wenn alle Tugenden in einem Vollendungsbegriff, einem Ideal zusammenlaufen. Diesen Begriff fand er in der Idee des absoluten Guten, das die drei anderen Ideale Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit in sich einschließt.
Die Idee des Guten bildete für Platon die Sonne im Ideenreich und stand damit in Entsprechung zur tatsächlichen Sonne als lebensspendendem Prinzip, das der sinnlichen Erfahrung zugrundeliegt. Doch die sinnliche Erfahrung führt nur bis zur Erkenntnis der Doxa, der Meinung; echtes Wissen lässt sich allein im Bereich der Ideensonne, des höchsten Guten erreichen, deren erste Erscheinungsform die mathematischen Ideen und Allgemeinbegriffe, die Universalien darstellen.
So begann Platons Denken aus dem Geist des Dualismus von Geist und Materie, Sein und Werden, Parmenides und Heraklit, der das ganze nachpythagoräische Denken bestimmt hat. Die Dialektik bildete nicht nur die Form seines Denkens, sondern auch die Grundlage seiner Darstellungsweise. Seine Lehre wählte immer die Dialogform. In Rede und Gegenrede, die einander nach den drei dialektischen Prinzipien Deduktion, Definition und Mimesis ablösten, wurden sämtliche Argumente vorgebracht und meistens von der Figur des Sokrates geklärt.
Die Anzahl der sicher von Platon geschriebenen Dialoge beträgt sechsunddreißig; hierzu kommen noch sieben Briefe, deren Echtheit teilweise bezweifelt wird. Platon hat seine Schriften nicht geordnet, ihre Reihenfolge ist umstritten. Wir wollen sie folgendermaßen gliedern:
- zur dialektischen Periode der Auseinandersetzung mit anderen Philosophen zählen die Dialoge Protagoras, Sophistes, Menon, Parmenides, Theätetos, Gorgias und Laches.
- Die zweite Periode, die der Idee und ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit und Unsterblichkeit gewidmet ist, bringt das Gastmahl und die Schilderung von Sokrates Tod, Apologie, Kriton und Phaidon.
- Die dritte Periode befasst sich mit der Gesellschaftsordnung, sie enthält die Dialoge Staat und Gesetze;
- und in der vierten Periode beschreibt der Dialog Kritas das untergegangene Atlantis als den Idealstaat, und Timaios bringt die platonisch-pythagoräische Kosmogonie.
In der ersten Periode widmete sich Platon der dialektischen Bestimmung der Tugend. Sokrates war nur daran gelegen gewesen, die Richtung des Denkens auf das Erreichen der Tugend hinzulenken; Platon hingegen versuchte sie so weit als möglich inhaltlich zu bestimmen, vor allem die Gerechtigkeit, später die Ideale Wahrheit und Schönheit, und schließlich die Güte als Ideensonne.
Was ist es nun, das den Menschen befähigt, nach diesen Idealen — also nach etwas nicht in der alltäglichen Erfahrung Gegebenen — zu streben? Platon bestimmte in seinem Gastmahl den Eros als diese Kraft. Ursprünglich ist der Mensch als Einheit von Mann und Frau geschaffen; doch auf der Erde sind die Geschlechter getrennt. Beide streben danach, wieder zur ursprünglichen kugelartigen Ganzheit zu verschmelzen. Wenn der Verliebte den Partner im verklärten Lichte sieht, so schaut er nicht eine Illusion, sondern das wahre Wesen des Geliebten, dessen höchste Möglichkeit. In Illusion verfällt er dagegen, wenn er glaubt, seine Liebe sei Täuschung und er sich auf die Alltagswirklichkeit beschränkt. Die Ganzheit von Mann und Frau, das Menschenbild, ist die eine Idee, zu der der Mensch von Natur aus, als Gattungswesen Zugang hat. In ihrer Sphäre sind alle anderen Ideen und Ideale gelegen, deren Erkenntnis den gleichen Zustand des Enthusiasmus hervorruft wie ihn der Verliebte kennt. So ist das Hervorrufen der Liebe die eine Möglichkeit, um sich der Wahrheit des Ideenreichs zu bemächtigen; die andere ist die dialektische Methode.
Wir können uns die platonischen Ideen am Sinnbild des kosmischen Kreises veranschaulichen:
Die Ideenwelt lässt sich einerseits über den Eros, andrerseits über Mathematik und Dialektik anpeilen. Als mathematische und logische Begriffe haben die Ideen zweifellos ein prädikatives Sein, das heißt, sie lassen sich über den Syllogismus bestimmen. Haben sie aber auch ein Sein im Sinne der Existenz, existieren sie wirklich und sind sie zu erleben? Platon war von dieser Existenz überzeugt. Um sie zu erweisen, aber auch die Schwierigkeit ihrer Erkenntnis darzulegen, prägte er zwei Beispiele: einerseits die Anamnese, die Wiedererinnerung, und andrerseits das Höhlengleichnis.
Das erste Beispiel geht davon aus, das ein Mensch mathematische Wahrheiten erkennen kann, ohne sie gelernt zu haben; sie müssen ihm also eingeboren, in ihm verborgen sein, und können durch eine gewisse Fragetechnik — die Maieutik oder Hebammenkunst — zum Wissen erweckt werden. Platon vermutete, dass der Mensch dieses Wissen vorgeburtlich besitzt, da sich der Mythos jenseits der Todes- und Geburtsschwelle befindet, und auch die mathematischen Sätze eine Gültigkeit jenseits von Raum und Zeit besitzen: ewig ist die Summe der Winkel im Flächendreieck 180°.
Woher kommt dann die Schwierigkeit, sich von der Wirklichkeit der Ideen zu überzeugen? Diese Frage beantwortet Platon mit dem Höhlengleichnis:
In einer Höhle seien Menschen mit dem Gesicht zur Wand gefesselt. Sie sehen nur an Schattenbildern an der Wand, wie zwischen ihnen und Fackeln Gegenstände vorbeigetragen werden, und halten diesen Widerschein für die einzige Wirklichkeit. Wenn es nun einem gelingt, sich aus den Fesseln zu befreien, aus der Höhle herauszukommen und ans Tageslicht zu dringen, so wird er erst von der Sonne geblendet sein; doch nach einer gewissen Zeit der Adaptierung kann er die wirkliche Welt erkennen. Wenn er aber nun zurückkehrt, um seine Erfahrung den ehemaligen Kameraden deutlich zu machen, so wird sie ihm keiner glauben, weil seine Behauptungen ihrer augenscheinlichen sinnlichen Erfahrung widersprechen.