Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
Einführung
Phänomenologie des Bewusstseins
In den Mythen wurde die frühe Instinktsicherheit und Harmonie mit der Natur, die den Menschen vor Erwachen des Selbstbewusstseins kennzeichnete, als das verlorene Paradies oder goldene Zeitalter betrauert. Es scheinen sich jedoch in der Traumsphäre nicht nur menschliche Erinnerungen erhalten zu haben, sondern auch aus der jahrmillionenlangen geologischen Evolution Erinnerungsrelikte früherer Lebewesen. Wie der menschliche Embryo im Mutterleib die Erdgeschichte wiederholt, sodass er zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr einem Fisch als einem Säugling gleicht, ebenso hat der menschliche Instinkt an vormenschlichen Erinnerungsschichten teil. Der Kampf mit dem Drachen, der sich überall in der Welt als mythisches Motiv findet, scheint ein solches Überbleibsel zu sein, da sich nirgendwo menschliche Fossilien gefunden haben, die bis in die Saurierzeit zurückreichen. Das eigene menschliche Bewusstsein hat damit begonnen, dass sich das Wachen als die Fähigkeit der Beobachtung der Wirklichkeit aus der Traumsphäre löste und ein Eigenleben begann, das gegenüber der Instinktgebundenheit eine echte biologische Mutation bedeutete.
Mit diesem Erwachen, wie man es wohl nennen kann — mythisch in der Bibel dargestellt als die Vertreibung aus dem Paradies nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis — wurde nun auch das andere Gegensatzpaar bewusst: die Spannung zwischen Reflexion und Schlaf, Leben und Tod. Zum Pol des Lebens gehören hierbei Handeln und Erleiden, Denken und Gesellschaft, Anpassung an die Wirklichkeit und Entfremdung; zum Pol des Todes und des Schlafes auch jeder Neuanfang, jede Geburt und eine mögliche Weiterexistenz jenseits der irdischen: die Sphäre von Mythos und Religion.
So lebte der Urmensch zwischen vier gleichwertigen Koordinaten seines Bewusstseins: Traumwelt und Wachwelt, Lebenswelt und Todeswelt. Diese Koordinaten haben sich seither nicht gewandelt, wenn auch die eine oder die andere immer wieder aus dem Bewusstsein schwindet, wie etwa Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts die Traumwelt als subjektive Illusion und die religiöse Welt als böswillige Täuschung werteten. Daher kann eine wirklichkeitsgemäße Schilderung der Geschichte als Träger der bewussten Evolution des Menschen nur von einer Berücksichtigung aller vier Bewusstseinszustände und ihrer Weltbereiche ansetzen. Die wissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit bestimmt nur einen Ausschnitt des Lebens. Es gibt nicht eine, sondern vier Phänomenologien des Bewusstseins: eine des Wachens, eine der Lebenswirklichkeit, eine des Träumens und eine der Totenwelt. Und ebenso gibt es daher vier verschiedene Beschreibungen und Schilderungen dieser Sphären, für welche sich besondere Namen herausgebildet haben:
- die Phänomenologie des Traumes erfasst das Märchen,
- die Phänomenologie des Wachens die Wissenschaft,
- die Phänomenologie der Totenwelt der Mythos, und
- die Phänomenologie der Lebenswelt die Geschichte.
Träger des Traumes ist die Analogie oder auch Allegorie: das Traum-Ich bedient sich der natürlichen Entsprechung, um sich Schwierigkeiten des Wachlebens zu veranschaulichen. So gleicht eine Aufnahme des Kontaktes mit dem Unterbewussten dem Tauchen ins Meer, und von der Wirklichkeit losgelöstes Denken spiegelt sich als Fliegen im Raum mit der Angst eines plötzlichen Absturzes. Träger des Mythos hingegen ist das Symbol. Dieses Wort wird heute in der Bedeutung von Sinnbild und Chiffre gebraucht, wie man etwa die Zahl Pi oder plus und minus als mathematische Symbole definiert. Der griechische Wortsinn meint etwas anderes: ursprünglich bezeichnete symbolon einen Ring, den Gastfreunde teilten, um sich später einmal wiederzuerkennen. In seiner mythischen Bedeutung bildet das Symbol eine Brücke zur jenseitigen Welt. Der Mensch hält im Zeichen nur einen Teil der Wirklichkeit; der andere ist seinem logischen Erkennen nicht zugänglich — er gehört der Offenbarung zu. Symbole wurzeln in einer transzendenten jenseitigen Wirklichkeit oder vielleicht besser Möglichkeit, die sie nur dem Suchenden und Strebenden eröffnen. Wenn dieser nun den Zugang gewinnt, so hat die Offenbarung einen über den Tod hinaus verpflichtenden Charakter: der echte Mythos ist stärker als das irdische Leben.
In der religiösen Sprache unterscheidet man die Welt der Symbole als das Heilige vom Profanen der Alltagserfahrung. Diese Unterscheidung ist heute durch die herrschenden Religionen zu stark eingeschränkt; wir wollen uns daher an die Terminologie von Rudolf Otto halten, der sie der polynesischen Mythologie entnahm: diese bezeichnet das Wesen des Symbols als das Mana. Wenn dieses Mana Bildern oder auch Gegenständen anhaftet, — denn nicht nur Träume, sondern auch bei Wachbewusstsein vollzogene Riten und Gegenstände der Erfahrung können Mana enthalten — erweist es sich am mysterium tremendum et fascinans — Mana versetzt den Menschen in Furcht und Zittern, in einen der Hypnose ähnlichen Zustand, und kann ihn aus diesem heraus wohl auch zu Leistungen oder Abenteuern inspirieren, die seinem Alltagsbewusstsein mit dessen vernünftiger Vorsicht fernliegen.
Beispiele echter Mythen sind der sterbende und wiedergeborene Gott, das göttliche Kind, die jungfräuliche Mutter als Gottesgebärerin, die Bilder der Tierkreiszeichen als Tor zum Jenseits; ferner die verschiedenen Gottesvorstellungen und Wege selbst, dann aber auch die einfach scheinenden Figuren wie das Kreuz, das Dreieck, der Kreis und das Rad.
Bemächtigung des Mana, der mythischen Gehalte geschieht über den Ritus: die genau wiederholbare und im Zeitlauf wiederkehrende raum-zeitliche Gestaltung eines Geschehens, wie wir sie im Christentum im Aufbau der Messe und im Kirchenjahr beobachten können.
Man unterscheidet drei Zugänge zum mythischen Bereich: den mystischen, den magischen und den prophetischen. Mystik heißt ursprünglich das, was man mit geschlossenen Augen wahrnehmen kann; sie bedeutet also den Zugang über die Traumsphäre durch Übung und Meditation. Magie sucht den Anschluss an das Mana aus der wissenschaftlichen Wachwelt: über Formeln oder Opfer soll das Göttliche in den menschlichen Dienst gezwungen werden. Der prophetische Zugang wirkt über das Wort und zeigt sich in dreierlei Weise: als echte Prophetie, wie wir sie in Israel und im Islam kennen; als Gebet, in dem sich der Mensch der Gottheit öffnet, um eins mit ihrem Willen zu werden, wie im christlichen Vater-Unser; und schließlich als Orakel, wo die Gottheit in einer Weise befragt wird, dass sie über das anscheinend Zufällige Antwort geben kann: sei es mittels eines Menschen, der in einen hypnotischen Trancezustand versetzt wurde, wie das tibetanische Staatsorakel, die Pythia in Delphi, und die römische Sibylle; sei es in einer anscheinend mechanischen Tätigkeit, wie das Kartenaufschlagen der Ägypter oder das chinesische Stäbchenorakel beim Buch der Wandlungen, oder sei es in der Interpretation natürlicher Vorgänge, die ausdrücklich auf ein Ereignis bezogen werden, wie bei den Auguren der Römer, welche aus dem Vogelflug über einem Opfer das Schicksal weissagten.
Wachen
e
i
g
a
M
Prophetie
M
y
s
t
i
k
Traum
Wesentlich für den ganzen mythischen Bereich ist, dass er nicht mit dem Traum — gleichsam als eigenes Unterbewusstes — oder mit der wissenschaftlichen Formulierung einzufangen ist, sondern eine echte Substanz in sich birgt: die Gottheit, deren Wesen und Verhalten sich weder bestimmen noch voraussagen lässt. So müssen wir hinter der Schwelle des Todes, hinter dem Mythos einen Ursprung annehmen, dessen Wesen sich der begrifflichen Bestimmung entzieht, da er unendlich ist; wir wollen ihn als das Unerschöpfliche bezeichnen.
Der Traum ist persönlich zentriert, nimmt den Menschen als Subjekt; in einem Traumvorgang ist nicht nur seine eigene Figur er selbst, sondern auch alle anderen Figuren und Ereignisse sind Erzeugnisse seiner persönlichen Einbildungskraft. Der Mythos hat als seinen Quell ein unvoraussehbares und undeterminierbares DU, eine dem Menschen gegenüberstehende Wesenheit. Mit der dritten Sphäre des Bewusstseins, der Wachwelt, treten wir wieder in die persönliche Subjekthaftigkeit zurück. Wenn auch die Wissenschaft in ihrer geschichtsgewordenen Form etwas Objektives darstellt, so ist doch der Weg ihrer Bemächtigung subjektiv; wissenschaftlich ist nur dasjenige, was man klar verstehen, eindeutig begreifen und erklären kann und was daher für einen selbst zu meistern ist.
Wachvorstellung bedeutet Vergegenwärtigung: die Wissenschaft hat andere Kategorien als Traumwelt oder Mythos. Nur das klar und deutlich Bestimmte hat in ihr Bestand. Aus dem Besonderen zieht sie das Allgemeine; einerseits die Elemente, die sich als letzte unzurückführbare Bausteine des Dinges oder der gegebenen Situation darstellen, und andrerseits die Gesetze, nach welchen sich diese Elemente zu mannigfaltigen Erscheinungen verknüpfen. Die physikalische Materie lässt sich z. B. wissenschaftlich aus den Konstanten, den Urteilchen und den feststehenden Relationen wie Lichtgeschwindigkeit und absoluter Nullpunkt erklären; hierzu tritt das System der chemischen Elemente, der atomaren Gruppen mit ihren Verbindungsgesetzen. Desgleichen gliedert sich die Sprache nach Buchstaben, Gesetzen der Wortbildung, Grammatik und Syntax; die Musik hat ihre Elemente in den Tönen und Intervallen, ihre Gesetze in Melodie, Harmonie und Rhythmus. Was immer wissenschaftlich zu bestimmen ist, muss über Analyse und Synthese nach Bestandteilen und Zusammenhang aufgegliedert werden können. So ist die Form des wissenschaftlichen Ausdrucks die in sich geschlossene Abhandlung, und die Geschichte der Wissenschaft schreitet von schlechterer zu besserer Formulierung fort, ja frühere Erkenntnisse gelten durch neue als überholt oder in einen neuen Zusammenhang aufgenommen. Man spricht geradezu vom heutigen Stand der Wissenschaft: gleich unserem persönlichen Wachbewusstsein ist die Wissenschaft immer Vergegenwärtigung, auch wenn sie sich auf die tatsächliche Geschichte bezieht; denn dann betrifft sie den Schatz der Kategorien, durch den die Vergangenheit erklärt werden soll.
Die echte Geschichte nun — die einzige, die wirklich diesen Namen verdient — verläuft auf andere Weise: jedes Geschehnis hat in ihr seine eigene Bedeutung. Ihr Gesetz ist die Einmaligkeit, das Unwiederholbare; sie bedeutet Beschreibung der Mannigfaltigkeit des Lebens in seinen Abläufen, das Zusammenspiel der menschlichen Schicksale.
Diese Abläufe haben Ursache und Folge; die Geschichte hat Subjekte: sie wird von bestimmten Menschen geprägt. Wir sprechen von einer napoleonischen, einer friedrizianischen oder theresianischen Epoche, von der Zeit des Hammurabi und des Perikles; damit greifen wir bestimmte Personen als geschichtsschaffend heraus, deren Willen sich andere unterordneten und als deren Werk sich eine geprägte Form, ein Stil entwickelt hat. Wie der Mythos, so ist auch die Tatsächlichkeit des Lebens eine objektive Gegebenheit, ein Sosein, welches sich durch kein Schema erschöpfend bestimmen lässt.
Es gibt keine historische Determination; alle Versuche, eine solche zu konstruieren, stellen letzten Endes wissenschaftlichen oder mythischen Aberglauben dar. Trotzdem gibt es Kategorien, dank derer sich das Geschehen als Wirken von Subjekten, von bestimmten Menschen ergreifen und erklären lässt. Es sind dies keine eigenen Kategorien, sondern diejenigen der drei früher bestimmten Bereiche, der Wissenschaft, des Mythos und des Märchens, welche die Möglichkeit alles Gegebenen und Geschehenen, und auch die tatsächliche Erinnerung zu umgreifen vermögen.