Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
3. Das logische Denken
Stoa
Der Begründer der Stoa war Zenon, aus Kition in Zypern gebürtig, der wahrscheinlich von 331 bis 232 lebte. Die Philosophie erhielt ihren Namen nach der athenischen Säulenhalle Stoa Poikile, in der er lehrte.
Ideal der Stoiker war die Figur des Sokrates; seine Haltung gegenüber Leben und Tod versuchten sie nachzuahmen. Ihre wesentliche Leistung war die philosophische Bestimmung des sittlichen Verhaltens, also des ethischen Ideals, das auf der Erringung der Fähigkeit zum Wollen beruht: die menschliche Triebkraft könne nur dann als Wille bezeichnet werden, wenn sie der Vernunft, dem logischen Denken untergeordnet ist; sonst lebe der Mensch im Wahn und sei unfrei; er werde von seinen Trieben nach deren Gesetz mitgerissen.
Um den Willen zu festigen, gilt es die Ideen in systematische Übereinstimmung zu bringen, später in der lateinischen Philosophie adaequatio genannt. Die Übereinstimmung wird vermittels der Aufstellung von Kriterien erzielt, welches Wort von den Stoikern erfunden wurde: ein Kriterium ist derjenige Gedanke, der klar und unveränderlich in der menschlichen Vorstellung bestimmt werden kann, in dem er deren Fluss zum Stillstand bringt. Die kataleptische Phantasie, die Erstarrung der Begriffe, welche die Kriterien erzeugt, war dem Bild eines körperlichen Starrkrampfs entnommen.
Die Einheit und Reinheit des Willens ist das höchste Ziel, höher als das Leben selbst; daher darf der Stoiker, wenn er in unwürdige Lebensumstände gezwungen wird, den Freitod wählen, wie dies verschiedene getan haben. Schon vom Gründer Zenon wird es berichtet, und am berühmtesten wurde der Römer Seneca, der unter Neros Herrschaft in den Tod ging.
Ziel der Stoiker ist also die Einheit des Wollens über die systematische Adaequatio der Begriffe. Doch auch die Natur entsteht aus der ursprünglichen Einheit des Weltwillens als Gottheit: hier äußern sich die Kriterien als logoi spermatikoi, als rationes seminales: als samenhafte Urgründe, in welcher Lehre die Stoiker die aristotelischen Entelechie mit den unzähligen Urelementen des Anaxagoras vereinten.
Von den vier Grundbegriffen behielten die Stoiker nur zwei, die sie als das Handelnde und Erleidende, poion und paschion, bezeichneten. Diese bilden polare Prinzipien:
- das Handelnde entspricht der Gottheit, dem Logos und der Form,
- das Erleidende der Materie.
Der Logos findet sich als feinster Stoff in der Natur und als Kern der Vernunft im Menschen. Gelingt es diesem, seine Vernunft als Mitte zu bewahren, so hat er die wahre Weltmitte und damit die Freiheit, die Selbstbestimmung des Wollens erlangt. Ziel des Lebens ist die Glückseligkeit, die als Tugend erreicht wird, wenn der menschliche Wille in Einklang mit dem göttlichen wirkt.
Diese Tugend lässt sich mit vier Begriffen ausreichend bestimmen: sittliche Einsicht, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Sie vereinen sich zum Begriff der Pflicht, demgemäß einzig der Weise zu leben versteht, der sich weder durch seine Leidenschaften noch durch äußere Ereignisse aus der Ruhe bringen lässt.
Der Weise lebt aber nicht allein, sondern in der Gemeinschaft; um ihretwillen sei der Mensch erschaffen. So kam die Stoa als letzte Konsequenz ihrer Ethik zur Idee des Weltstaates, Weltrechtes und Weltbürgertums, dem Kosmopolitismus. Ihre wesentlichen Vertreter lebten im römischen Bereich. Berühmt wurden vor allem die Schriften Senecas, Epiktets, und später die Selbstbetrachtungen des Kaisers Marc Aurel. Sie gehören mehr der moralischen als der philosophischen Literatur zu und fanden ihre Fortsetzung im Werk der großen französischen Moralisten der Neuzeit.
Den Gegenpol der stoischen Philosophie bildete die epikuräische. Ihr Gründer Epikuros lebte von 372 bis 276 in Athen. Er nahm die demokritische Lehre auf, die wie erinnerlich in der platonischen und aristotelischen Philosophie keinen Platz gefunden hat.
Die theoretische Lehre der Epikuräer war eine materialistische Naturphilosophie, die in der Hauptsache von späteren römischen Philosophen wie Lucretius (99-55 v. Chr.) ausgebaut und formuliert wurde. Der zentrale Begriff der epikuräischen Ethik war die Lust: das einzig sichere Glück des Menschen besteht im Lustgewinn, in der Freude. Epikur unterschied eine aktive und passive Freude: die aktive besteht im sinnlichen Genuss und die passive im schmerzlosen Zustand.
Zu große sinnliche Lust bringt Schmerz und Krankheit; daher gelte es maßvoll zu leben. Die Gewinnung dieses Maßes sei die wahre Sittlichkeit, die der menschlichen Natur eingeboren ist. Dieses Maß erkennen wir aus der Erfahrung; gleich den modernen positivistischen und materialistischen Philosophen leitete Epikur die Ethik aus der Physik ab.
Aus der Ethik wäre die spätere Feindschaft der Christen gegen die Epikuräer nicht zu verstehen; sie rührt daher, dass Epikur nicht an ein Fortleben nach dem Tod glaubte. Er sah das Verlöschen als Trost an im Gegensatz zu dem furchtbaren Schicksal, das nach mythischer Tradition die Toten zu gewärtigen hatten.
Das Streben nach Freude führt jedoch nicht, wie es die Gegner Epikurs behauptet haben, zu schrankenlosem Egoismus; ganz im Gegenteil: nur wer seine eigene Lust bejaht, der bejaht auch das Wohlergehen der Mitmenschen. Schon Demokrit galt im Altertum als der lachende Philosoph im Gegensatz zum weinenden aristokratischen Heraklit. Und die höchste Tugend der Epikuräer war die Freundschaft, vor allem die Gastfreundschaft im Teilen der frugalen echten Güter des Lebens wie Brot, Oliven, Wein und Käse. Der spätere römische Luxus wäre Epikur genau so fremd, unnatürlich und maßlos erschienen wie den Stoikern.
Der Gegensatz von Stoikern und Epikuräern bildete die Spannung, aus der sich die späteren europäischen Philosophien entzündeten. Doch gab es noch zwei weitere Richtungen, die aus der Philosophie überhaupt herausführten: die Skeptiker und die Eklektiker, die an die Sophisten anschlossen. Die Skeptiker und Kyniker behaupteten mit dialektischen Mitteln, dass alles Erkennen überhaupt niemals zur Wahrheit, sondern nur zu einem Scheinwissen führen könne, sie endeten daher gewöhnlich in einem schrankenlosen Relativismus und Konformismus. Denn wenn es keine objektive Wahrheit gibt, so ist es das Vernünftigste, sich den jeweils herrschenden Glaubensvorstellungen und Sitten anzupassen. Die Eklektiker dagegen verzichteten auf jegliche Systematik. Sie nahmen sich aus jedem System und auch aus jeder Religion das heraus, was ihnen gerade gefiel, und ergänzten es zu einer Weltanschauung, einem persönlichen Glauben im Sinne des Fürwahrhaltens, wobei sie die griechische Strebensrichtung von der doxa zur episteme endgültig verließen.
Keine der vier Richtungen konnte dem Gemeinschaftsleben der ausgehenden Antike, der hellenistischen Epoche ein wirklich denkerisches Fundament bieten. Dieses sollte von einer ganz anderen Seite kommen: aus dem von den Römern entwickelten juristischen Denken.