Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
3. Das logische Denken
Römische Rechtsphilosophie
Uns heute scheinen philosophisches und juristisches Denken einander fremd. Doch sind sie im Ursprung aus der gleichen Lage entstanden: aus der Notwendigkeit, vom mythischen Denken in ein begrifflich klares logisches Denken aufzusteigen. So steht am Anfang des juristischen Denkens ein archaisch-philosophisches, das aber seinen ersten Ausdruck nicht in einem System, sondern in dem berühmten römischen Zwölf-Tafeln-Gesetz gefunden hat.
Um das Verhältnis der Rechtsphilosophie zu den anderen Systemen zu verstehen, müssen wir uns an eine frühere Unterscheidung zurückerinnern: an die Gliederung des menschlichen Gemüts in die Bereiche Körper, Seele und Geist. Die Epikuräer setzten in ihrem Denken aus dem Ideal der Gesundheit an, und damit aus dem Körper; die Stoiker aus dem Geist, da sie die Einheit des Wollens durch die Adaequatio der Begriffe zu erreichen suchten. Die Seele dagegen, aus der die Sphären von Sitte und Recht entspringen, war in Griechenland nicht zum Träger eines eigenen Gedankengebäudes geworden. Alles Recht wurde einerseits mit göttlich-mythischer Satzung, andrerseits mit den herrschenden Gesetzen einer Polis identifiziert, denen sich sogar Sokrates fraglos unterordnete; es blieb ein Teil von Mythos und Religion. Den Römern gelang es nun, für das seelische Gebiet des Rechts die Lösung aus dem mythischen Bewusstsein zu vollziehen, welche Lösung sich allerdings über mehrere Jahrhunderte hinzog.
Die Gründung von Rom gehört dem mythischen Denken zu. Gleich allen kosmisch orientierten Zivilisationen leiten sich die Römer von einem Brüderpaar ab, Romulus und Remus, von denen der eine den anderen erschlug. Die Stadt wurde auf sieben Hügeln erbaut und war dem Kriegsgott Mars geweiht. Andrerseits scheint schon früh die Vorstellung geherrscht zu haben, dass Rom von Äneas, dem Sohn des Königs Priamos von Troja nach dessen Zerstörung gegründet wurde. Das vergilsche Epos, das die Gründung schildert, spielte im römischen Denken die gleiche Rolle wie die homerischen und hesiodschen Epen bei den Griechen. Daher schloss sich die mythische lateinische Vorstellung immer mehr an die griechische an, und die selben Götterfiguren wurden in lateinischer Übersetzung verehrt: Zeus als Jupiter, Ares als Mars, Aphrodite als Venus usw., wobei es gleichzeitig auch zu einer Identifikation der Götter mit den Planeten kam.
Im fünften Jahrhundert gingen römische Abgesandte nach Griechenland, besonders nach Athen, um für die Stadt nach der Befreiung aus der Königsherrschaft und der Einführung der Republik eine neue Gesetzgebung, eine rechtliche Verfassung zu schaffen. Anlass hierzu war der Streit zwischen Besitzenden und Besitzlosen, der auch in allen griechischen Städten wütete, in Rom zwischen den alteingesessenen Patriziern und den rechtlosen Plebejern. Um die Mitte des fünften Jahrhunderts hatten die Plebejer aus Protest gegen Übergriffe die Stadt verlassen und waren auf den heiligen Berg gezogen. Sie drohten, nicht mehr zurückzukehren, falls ihnen nicht ein eindeutiges und klares Recht zugemessen würde. Darauf wurden zehn Männer eingesetzt, die nach Rückkehr der Gesandtschaft aus Griechenland um 450 die erste kodifizierte Rechtsordnung schufen, die auf zwölf Tafeln aufgezeichnet wurde, wobei die Ordnung der Gesetze thematisch dem kosmisch-astralen Schema folgte: das erste Gesetz behandelte die Person, das zweite die Besitzverhältnisse, das achte die Todesstrafe. Den Ursprung dieses neuen Rechts bildete dessen Lösung aus dem mythisch-religiösen Denken: die Unterscheidung von Fas und Jus entspricht genau der griechischen von Mythos und Logos. Zuerst stand das Jus nur gleichberechtigt neben dem Fas als der Summe der göttlichen und gewohnheitsrechtlichen Sitten, doch im Lauf der Geschichte sollte es dieses vollständig in den Hintergrund verdrängen, bis es selbst wiederum durch die leges
ergänzt wurde.
Den Angelpunkt des römischen Rechtsdenkens bildete der Begriff der menschlichen Person, die persona, deren Verantwortlichkeit im Rechtsprozess durch klare Entscheidung unabhängiger Männer, doch nach Maßgabe des kodifizierten Rechtes oder nach bereits gegebenen Vorbildern, also casuistisch, festgestellt wurde. Schon früh bildete sich die Dreiheit von Ankläger, Verteidiger und Richter heraus; deren Aufgabe wurden immer weiter und genauer durchformuliert, bis schließlich zu Beginn der Kaiserzeit ein ganzes Gebäude der Jurisprudenz bestand, das von eigens geschulten Beamten, den Juristen, interpretiert wurde.
Die Person bedeutete gegenüber dem griechischen Bürger und auch dem philosophischen Logos etwas völlig Neues. Von Anfang an wurde der Mensch für seine Taten voll verantwortlich erklärt; und das Verfassungsrecht, das zu einer genauen Gliederung des römischen Staates geführt hatte, legte die Rechte und Pflichten bis ins einzelne fest. Als Person galt nur der mit Rechten und Pflichten ausgestattete römische Bürger; der Sklave konnte nicht Rechtsträger sein und galt als Sache, als res
, über die der Besitzer frei verfügen konnte.
Mit Eindringen der stoischen Philosophie wurde die Vorstellung des vernünftigen Willens in den Personbegriff einbezogen, und fortan prüfte man die Willensentscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit. Hiermit war der Mensch tatsächlich Herr seines Handelns geworden, und der römische Staat brachte als erstes westliches Gemeinwesen der Geschichte die Rechtssicherheit. Der Bürger konnte in jeder Lage wissen, woran er war, und demgemäß seine freie Entscheidung treffen. Allerdings war diese Machtvollkommenheit nur auf die Familienväter beschränkt, während sich Frauen und Kinder zu unterwerfen hatten.
Nicht die Macht, sondern das Recht bildete die Grundlage der römischen Republik. Um dieses Recht gegen andere Staaten zu sichern und auch seiner Rechtsauffassung Wirksamkeit zu verleihen, sah sich Rom gezwungen, seinen Herrschaftsbereich immer weiter kriegerisch auszudehnen. Ursprünglich war das Bürgerrecht auf die Einwohner der Stadt beschränkt. Doch bald bildete sich das gleiche soziale Gefälle zu den Nichtbürgern der Provinzen heraus, wie einst zwischen den Patriziern und den Plebejern und zur Sicherung des Rechtszustandes mussten immer mehr Menschen das Bürgerrecht erhalten.
Die Größe des Reiches, das bald den Mittelmeerraum umfasste, nachdem um 200 v. Chr. der letzte gefährliche Gegner in Karthago besiegt worden war, machte es nun möglich, es weiter im Rahmen der städtischen Verfassung zu verwalten. Seine Spitze musste selbst eine Person werden, damit diese nun die Verantwortung dafür trüge, dass jedem Bürger des Reiches sein Recht zuteil werde. Julius Cäsar, nach beispiellos erfolgreichen Feldzügen zur Herrschaft gelangt, versuchte dieses Ziel durch Wiedereinführung der Königswürde zu erreichen, wurde aber kurz vor Erfüllung seiner Absicht durch Verfechter der traditionell-republikanischen Ordnung ermordet. Sein Neffe Octavian erlangte jedoch als Cäsar Augustus die Machtfülle ohne Zerstörung der republikanischen Einrichtungen, indem er geschickt alle Schlüsselstellungen in seiner Person vereinte, und leitete die erste langwährende Friedensperiode der Antike ein.
Wie der griechische Philosoph schuf auch das römische Rechtsdenken einen neuen Bewusstseinszustand, der die Bindung an das alte, mythische Weltbild zerstörte. Lange Zeit blieben Fas und Jus, mythisches und logisches Recht — welch letzteres sich in öffentliches, Privat- und Staatsrecht geteilt hatte — unabhängig nebeneinander bestehen. Bald begann der Mangel an Rückbindung an den Mythos spürbar zu werden. Von allen philosophischen Richtungen wurde der Eklektizismus in Rom am meisten heimisch, da das streng systematische lateinische Denken sich ausschließlich auf das Recht konzentrierte. So führte im weiteren Verlauf der Kaiserzeit der Senat immer neue Götter und Kulte ein, von den griechischen bis zu den ägyptischen und babylonischen. Doch alle diese Kulte verharrten im mythischen Denken. Nur einer einzigen Religion gelang es, eine Gleichung zum logischen Denken zu finden und dieses in eine ganzheitliche Anschauung zu überführen: dem Christentum.