Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

4. Das theologische Denken

Brücke zur Transzendenz

Das Denken der Vorzeit und der Antike hat drei verschiedene Stile entwickelt: das kosmische, das mythische und das logische Denken. Mit der römischen Kaiserzeit war, vor allem über die Entwicklung des römischen Rechts, das auf dem logischen Denken fußte, der Mythos und der kosmische Denkstil in der Hintergrund gerückt; damit war die Beziehung zur Transzendenz abgeschnitten. Die beiden ethischen antagonistischen Philosophien der Stoiker und Epikuräer waren antimythisch; sie versuchten, eine Ethik aus dem Denken beziehungsweise aus der Erfahrung zu begründen. Mit den Eklektikern begann die Umkehr; vor allem die Römer der späteren Kaiserzeit führten immer neue Kulte ein, um ihrem Bedürfnis nach Transzendenz und Religion Genüge zu tun. Diese Bewegung ergriff auch die Philosophie; so entstand das theologische Denken als der Versuch, Gott in das logische System einzubegreifen, dessen Wahrheit und Wirksamkeit hinfort außer Frage stand.

Im mythischen Denken lauschte der Mensch ergriffen der Stimme des Gottes oder folgte den offenbarten Sinnbildern und Vorbildern nach. Das Gefälle verlief vom Mythospol zum Wirklichkeitspol. Der logisch eingestellte Mensch hingegen fußte auf seinem Wissen. Ihm ging es darum, von der Welt aus Brücken zur Transzendenz zu schlagen. Dies geschah in vier verschiedenen Weisen: in der jüdisch-hellenistischen Philosophie, im Neupythagoräismus, dem Neuplatonismus und der Astrologie des Claudius Ptolemäus, welche man als Theosophie zusammenzufassen pflegte. Schwerpunkt dieser theosophischen Versuche war die Stadt Alexandria; und die erste Synthese von griechischem und jüdischem Denken wurde von dem Juden Philon unternommen, der dortselbst um 25 v. Chr. geboren wurde.

Zwar gab es einen älteren Versuch: um 160 v. Chr. wollte Aristobulos das griechische Denken aus dem alten Testament ableiten. Aber dieses Bestreben blieb apologetisch und eklektisch; Philon war der erste Systematiker, der beide Traditionen vereinte.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
4. Das theologische Denken
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