Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

Einführung

Objektive und subjektive Denkstile

Die vierfach bestimmte Wirklichkeit ist der Rahmen, in dem wir die Menschheitsgeschichte vom europäischen Gesichtspunkt her als Abfolge der Denkstile darstellen wollen. Wir werden sie nach zwei Perioden gliedern:

  1. die objektiven Denkstile,
    die sich im Zeitraum von der Vorzeit bis zur Gotik entfalten,
  2. die subjektiven Denkstile,
    die die Neuzeit und Gegenwart prägen.

In den objektiven Denkstilen begann die Orientierung des Menschen in der Wirklichkeit nach Erwachen des Bewusstseins aus der tierischen Instinktverhaftung. Sie hub an mit der Erkenntnis von Raum und Zeit als Ordnungsfaktoren, mit dem kosmischen Denken der Kalenderkulturen. Ihre Entfaltung zeigt auf der Erde die gleichen Züge.

Als nächstes wurde das Spiel der Raumzeit-Faktoren als freier Komponenten der Wirklichkeit erfasst, und es kam zur Ausprägung des mythischen Denkens in fünf verschiedenen Gebieten: im chinesischen, indischen, semitischen, persischen und griechisch-römischen.

Im Widerspruch zum Mythos entstand nun das logische Denken mit den Vorsokratikern, fand seinen Höhepunkt in Sokrates, Platon und Aristoteles, und klang im Gegensatz von Stoa und Epikur aus, welcher die ganze weitere abendländische Entwicklung prägen sollte. Gleichzeitig löste sich im römischen Denken das Jus aus dem Fas; es entwickelte sich eine logisch aufgebaute Rechtswissenschaft, die die Grundlage der späteren europäischen Staaten und Gesellschaften wurde.

Der nächste Denkstil führt uns ins Mittelalter. Mit der Ablösung aus dem Mythos war auch die antike Religion zerstört worden. Die Theosophen und Gnostiker versuchten von den gewonnenen logischen Positionen her Brücken zur Transzendenz zu schlagen; doch erst in der geschichtlichen Tatsache des Lebens, Lehrens und der Auferstehung Christi fand das logische Denken bei den Alexandrinern erneute Rückbindung an Gott im theologischen Denken.

Mit Justinian wurde im oströmischen Reich das Studium der griechischen Philosophie verboten; die Festigung der Dogmen führte zum theokratischen Denken, das in Byzanz in einer hierarchischen Gesellschaft erstarrte, die sich unverändert bis ins 15. Jahrhundert erhielt. In Arabien dagegen kam es nach Erscheinen des Propheten Mohammed zum weltgewaltigen Islam, welcher aus griechischen, chinesischen und indischen Gedanken eine neue und originelle esoterische philosophische Systematik begründete, die bei den islamischen Philosophen zu einer großartigen Wissenssynthese führte. In Westeuropa äußerte sich der theokratische Denkstil nicht in der Philosophie, sondern führte zur Gestaltung des karolingischen Reiches mit seiner straffen Organisation.

Nach der Festigung des Reiches, die im Zeichen der Rivalität von Papst und Kaiser stand und ihren Höhepunkt im Investiturstreit hatte, fand das scholastische Denken erneut den Anschluss an die philosophische Antike, vor allem über die Vermittlung der arabischen Kultur, und endete in der Synthese der Gotik, den Summen von Thomas von Aquin und Albertus Magnus. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in China und Indien; in China wurde der Konfuzianismus zum offiziellen Lehrgebäude, und in Indien kam es zur Ausbildung der sechs klassischen philosophischen Systeme, die bis in die Gegenwart die Grundlage des indischen Denkens bilden sollten.

Die Synthese der Gotik brachte in Europa die Wendung zu den subjektiven Denkstilen, die sich fortan im Gegensatz zu ihr entwickelten. Im humanistischen Denken erwachte der Mensch zur Erkenntnis seiner eigenen Person und ihrer Bedürfnisse, der vitalen und religiösen, die im Aufbruch der Renaissance und der Reformation ihre Verkörperung fanden. Im Gegensatz zur scholastischen Synthese wandte sich das Denken einerseits dem Studium der Urtexte, andererseits aber auch der Naturbeobachtung zu.

Das humanistische Denken war antisystematisch; die Vielfalt der Bestrebungen rief als Ordnungsfaktor das rationalistische Denken hervor, das zwischen Leibniz und Descartes, Hume und Kant den Rahmen der Vernunft absteckte; gleichzeitig entwickelten sich auch die mystischen und esoterischen Wege zu einer neuen Bedeutung, die im Gegensatz zum Rationalismus verharrten.

Mit Goethe kam die Wendung aus der Esoterik in die gestaltende Dichtung: sein Werk, das in Gegensatz und Spannung zum kantischen stand, brachte die Entfaltung des idealistischen Denkens und damit den Höhepunkt der deutschen Philosophie, dessen Ursprung bei Fichte, Schelling und Hegel lag und das sich mit Schopenhauer, Feuerbach, Kierkegaard und Nietzsche vollendete.

Der Abschluss des idealistischen Denkens bedeutet das Ende der Neuzeit und den Beginn der Gegenwart. Aus der Philosophie verselbständigten sich drei Denkstile. Als erstes trennten sich Politik und Wirtschaft mit dem Positivismus und Marxismus aus dem idealistischen Denken und entwickelten das soziologische Denken, welches heute noch die politischen Gegensätze prägt. Als zweites wurde sich das wissenschaftliche Denken seiner Eigenständigkeit im Gegensatz zur schellingschen Naturphilosophie bewusst, gewann mit der physikalischen Revolution von Einstein und Planck eine neue Einstellung zur Wirklichkeit und fand seine Vollendung einerseits in der Sprachphilosophie des Wiener Kreises und des angelsächsischen logischen Positivismus, andererseits in der Phänomenologie, dem Strukturalismus und der Kybernetik. Und als letzter der Denkstile entstand das ganzheitliche Denken, welches die Gesamtheit allen Wissens aus einer denkerischen Voraussetzung zu begründen oder in ihr zu orientieren suchte. Es begann mit dem Darwinismus, führte über Bergson mit Freud, Adler und C. G. Jung zur Tiefenpsychologie, brachte mit den esoterischen Bewegungen eine Wiedererweckung der früheren Denkstile, kulminierte mit der Kulturphilosophie in einem Verständnis der raumzeitlichen Komponenten der Kulturen und endete in einer Neubewertung der indianischen Mythen.

Damit ist der Kreis der Denkstile geschlossen; das Nacheinander der Geschichte ist zu einem Miteinander der Problemstellungen und ihrer Lösungen geworden, in denen der einzelne jene Anregung finden kann, die ihm für sein eigenes Leben sinnvoll erscheint.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
Einführung
© 1998- Schule des Rades
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