Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

5. Das theokratische Denken

Mohammed

In Byzanz entwickelte sich das theokratische Denken aus dem theologischen ohne Bruch der Kontinuität. Seit Justinian war die Stellung des Kaisers theokratisch. Sein Wort hatte absolute Gültigkeit, er war als Herrscher Stellvertreter Christi auf Erden. Anstelle der römischen Casuistik, der freien Interpretation einer Rechtslage im Anschluss an Präzedenzfälle, war der corpus juris getreten, den es wie eine heilige Schrift nur noch auszulegen galt. Die Stellung jedes Gliedes der Hierarchie war aus theologischen Überlegungen bestimmt und festgelegt und erlaubte keinen Spielraum. Jede Handlung musste im Rahmen der Orthodoxie zu verstehen und zu rechtfertigen sein. Daher gewann aber der Kampf gegen die ketzerischen Richtungen wie die koptischen Monophysiten eine größere Bedeutung als politische Überlegungen der Machtausweitung und Konsolidierung. So kam es, dass von vielen christlichen Völkerschaften Kleinasiens das oströmische Reich im Unterschied zum beginnenden Kaiserreich mit seinem augusteischen Frieden als bedrückend angesehen wurde, und jede revolutionäre Bewegung auf Anhängerschaft und Erfolg rechnen konnte.

In dieser Situation begann die Tätigkeit des Propheten Mohammed in Mekka, die binnen kurzem die politische Lage vollständig wandelte. Mohammed wurde um 570 in Mekka geboren. Er wuchs in Armut auf und verdiente sich seinen Unterhalt als Hirte für reiche Mekkaner. Obwohl er aus einer guten Familie stammte, hatte er keine Mittel, da sein Vater auf einer Reise nach Medina umgekommen war und seine Mutter ihn allein aufzog.

Mit sechsundzwanzig Jahren wandelte sich sein Schicksal: die vierzigjährige Witwe Chadidscha, die ein großes und verzweigtes Handelsunternehmen führte, bot ihm die Ehe an. Mohammed willigte ein und hatte nun Muße, sich ganz der Entwicklung seiner religiösen Gedanken und Visionen zu widmen, vor allem während des Fastenmonats Ramadan, der schon damals zusammen mit dem heiligen Stein der Kaaba in Mekka den Schwerpunkt der arabischen Religion bildete. Der Sage nach war dieser Stein, ein Meteorit, dem Adam nach Verlassen des Paradieses zur Orientierung gegeben und von Abraham an diese Stelle gebracht worden, um den Mittelpunkt der Erde festzulegen.

In Mekka lebten abrahamitische, arabische, persische, babylonische und christliche Traditionen nebeneinander. Zwar gelangte der Prophet zu keiner profunden Kenntnis dieser Religionen, da er ja die heiligen Bücher nicht zu lesen vermochte; doch erweckten sie in ihm die Sehnsucht, auch seinem arabischen Volk, das religiös zerfallen und zerrissen in Unmoral und Streit lebte, eine geistige Grundlage zu geben. Erst spät, gegen das fünfzigste Lebensjahr, wurde ihm die entscheidende Offenbarung zuteil. Der Erzengel Gabriel erschien Mohammed und diktierte ihm im Auftrag Gottes seine Verkündigung, die später als 96. Sure des Koran aufgeschrieben wurde:

Sag her im Namen deines Herrn, der schuf den Menschen aus zähem Tropfen; sag her, und dein Herr ist der Edelste, der mit dem Schreibrohr lehrte den Menschen, was er nicht wusste.

Diese Sure schildert eine echte mythische Ergriffenheit: der Mensch lernt durch Gott etwas, das er vorher nicht wusste; Gott eröffnet ihm eine Wirklichkeit, die er als seinen Ursprung spürt und die seinem Leben Sinn und Intensität verleiht.

Der ersten Sure folgten viele andere, die Mohammed seinen Schülern und Dienern diktierte. Alle stammen für ihn aus einer Überwelt, die den Charakter einer verpflichtenden Wahrheit hatte. Als erste folgte ihm seine Frau, dann sein Onkel und seine Verwandten. Doch da diese Offenbarungen sittlich strenge Gebote mit sich brachten, kam er in Gegensatz zur weltlich lebenden Bevölkerung Mekkas. Schließlich wurde, nachdem er weitere Anhänger gewonnen hatte, die Auseinandersetzung so stark, dass er mit ihnen nach Medina flüchtete und dort eine theokratische Gesellschaftsordnung errichtete. Diese Flucht — der Auszug von Mekka nach Medina, der am 16. Juli 623 stattfand — wurde siebzehn Jahre später vom Kalifen Omar, dem Nachfolger des Propheten, zum Beginn der neuen islamischen Zeitrechnung erklärt, die bis heute für alle Muslime gültig ist.

Aus dem Text des Koran ließe sich die ungeheure Wirkung Mohammeds nicht ableiten. Ebenso wenig aus dem Inhalt der theokratischen Verfassung, sondern nur aus seinem persönlichen Charisma: seine Gläubigen spürten, dass er aus der Sphäre Gottes heraus sprach und wirkte, also eine echte Brücke zum Jenseits bildete. Zwar war er, nach seinen eigenen Worten, ein ganz gewöhnlicher Mensch, der keine Wunder tat, nicht heilte und auch keine Toten auferweckte wie Christus. Doch seine Berufung war echt. Und aus dem Wissen des göttlichen Auftrags schuf er eine einfache Lebensordnung, die auf folgenden fünf Pfeilern ruhte.

  • Das Glaubensbekenntnis: Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist der Gesandte Allahs.
  • Das bis in alle Einzelheiten seiner siebzehn Haltungen vorgeschriebene rituelle Gebet, das noch heute von allen Gläubigen, wo immer sie sich befinden mögen, mit dem Gesicht nach Mekka, besonders nach Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gesprochen werden soll.
  • Das Fasten während des heiligen Monats Ramadan.
  • Die Almosen für Witwen und Waisen, die bald in eine feste Steuer umgewandelt wurden.
  • Die Pilgerfahrt zum Allerheiligsten in Mekka, die von jedem Gläubigen, sofern er nicht krank ist, einmal im Leben durchgeführt werden soll.

Einen Unterschied zwischen staatlicher und religiöser Autorität kannte der Islam von Anfang an nicht. Das Wort bedeutet Offenheit und Ergriffenheit gegenüber Gottes Willen und bezieht sich sowohl auf das staatliche als auch auf das religiöse Leben. Dieser Wille lässt sich weder ergründen noch bestimmen. In Gottes Ratschluss liegt das Leben des Menschen aufgehoben; er kann niemals wissen, ob Gott ihn zum Paradies auserwählt hat — den Mann zu Freuden, die den irdischen vergleichbar sind, und die Frau zur ewigen Kontemplation Gottes — oder nicht. Doch darf er auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen.

Im Anfang war Mohammed überzeugt, alle Menschen würden seine Botschaft freudig aufnehmen. Aber sowohl die Christen und Juden als auch die heidnischen Araber wehrten sich dagegen. Hieraus kam ihm der Auftrag des heiligen Krieges: nicht eher zu ruhen, bis der Islam die Welt erobert hat. Bei dieser Eroberung seien die Schriftbesitzer, Juden und Christen bevorzugt zu behandeln: wenn sie sich nicht bekehren, also nach Ansicht des Propheten noch nicht dazu reif sind, so sollen sie nur tributpflichtig sein, im übrigen aber ihre Religion mit gewissen Einschränkungen ausüben dürfen. So durften die Christen keine Glocken läuten und das Kreuz nicht zeigen. Gegen die Nichtschriftbesitzer wurde dagegen mit der Schärfe des Schwertes vorgegangen.

Der erste Kampf des Propheten richtete sich gegen Mekka. Mit seiner Eroberung war die Herrschaft endgültig gefestigt. Die Kaaba als größtes Heiligtum wurde zum Zentrum der Erde erklärt und die Reste des heidnischen Kultes in Mekka wurden zerstört.

Am 8. Juni 632 starb Mohammed in den Armen seiner Lieblingsfrau Aischa. Er hinterließ keine geregelte Staatsordnung, doch eine fest gegründete Gemeinde von Gläubigen, welche die Keimzelle zur weiteren Entfaltung des Islam bildete.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
5. Das theokratische Denken
© 1998- Schule des Rades
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