Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

5. Das theokratische Denken

Cyrill - Nestorius - Gregor I.

Augustin war der letzte theologische Denker des Westens gewesen. Nach ihm wechselte der Schwerpunkt auf das klösterliche Leben, auf Überwindung der Leidenschaften, und die Kirche stellte sich aller intellektuellen Leistung gegenüber feindlich ein. Die ersten christlichen Mönche und Nonnen waren Einsiedler und entzogen sich der öffentlichen Autorität. Um der drohenden Anarchie entgegenzusteuern, gründete Benedikt das erste Kloster in Montecassino und den Benediktinerorden. Gleichzeitig wurde die Ostkirche von dogmatischen Streitigkeiten zerrissen, die ihre Position schwächte. Nestorius, der Patriarch von Konstantinopel, war der Auffassung gewesen, dass Christus in sich eine menschliche und eine göttliche Natur vereine und die Jungfrau Maria keinen Anspruch auf göttliche Ehrung habe, da sie nur Mutter des irdischen Wesens gewesen sei, während der Geist Gottes ihn erst nach der Taufe durch Johannes in den Christus verwandelt hat. Sein Gegner Cyrill, Patriarch von Alexandria — berüchtigt durch den grausamen Mord an der neuplatonischen Philosophin Hypatia, die er in der Kirche bei lebendigem Leib von einem christlichen Pöbel zerfleischen ließ, und durch seine Pogrome gegen die jüdische Kolonie von Alexandria — war dagegen ein eifriger und fanatischer Verfechter der göttlichen Einnatur Christi. Er entschied das dritte ökumenische Konzil, 431, dem er präsidierte, zu seinen Gunsten, indem er früher zur Sitzung erschien und einfach die Anhänger des Nestorius aus dem Saal aussperren ließ. Mit dieser Entscheidung wurde Christus zur Einnatur erklärt und das theologische Denken im orthodoxen Bereich durch das theokratische abgelöst, das jeder Diskussion der Dogmen feindlich gegenüberstand.

Der größte Reformer der Westkirche war Papst Gregor der Große, ein Benediktinermönch, der 540 geboren wurde. Er reorganisierte die Kirche und schuf eine streng zentralistische Verwaltung, die zwar dem Namen nach dem Kaiser in Byzanz unterstand, sich in Wirklichkeit aber selbständig entwickelte. Für Philosophie und antike Wissenschaft hatte er wenig Verständnis. Nur die ethische Bemühung in der Nachfolge Christi erschien ihm als gültiger Weg zur Erlösung. Intellektuell wenig aufgeschlossen, war er in Verwaltung und Diplomatie ein Genie und es gelang ihm, die Stellung der Kirche durch geschicktes Lavieren zwischen den streitenden Parteien — Rom war mehrmals von Germanen erobert und von Byzantinern zurückerkämpft worden und die Langobarden hatten die Lombardei besetzt — immer mehr zu festigen.

Die wesentliche Entscheidung aber, welche die Entwicklung Roms von Byzanz unabhängig machen sollte, war die Anknüpfung der Beziehungen zwischen dem Papsttum und dem Frankenreich. Der Merowingerkönig Chlodwig I. war mit seinem Reich zum römischen Christentum bekehrt worden und über seine Hilfe beschloss Gregor der Große 595, auch England zu missionieren, das bis dahin zum Aktionsbereich der keltisch-irischen Mönche gerechnet wurde, die sich nicht von Petrus in Rom, sondern vom Apostel Johannes herleiteten und auch dem alexandrinischen Denken treu geblieben waren. Damit kam der größte Teil von Westeuropa unter römisch-katholischen Einfluss. Karl Martell, einem Bastard der karolingischen Hausmeier, gelang es 732 in der Schlacht von Tours und Poitiers, den Vormarsch der Mohammedaner zu stoppen. So gewannen die karolingischen Hausmeier die tatsächliche Macht, und die Merowinger waren Könige nur noch dem Namen nach.

747 wandte sich der Karolinger Pippin mit der Frage an den Papst Gregor III., wem die Krone gebühre, dem, der die Macht habe, oder der den Namen hätte. Der Papst entschied, dass die Salbung zum König nach israelischer Tradition eine größere Würde hätte als die legitime Stammesfolge. 751 wurde Pippin nach vorhergehender Wahl durch das fränkische Heer vom Erzbischof Bonifatius, dem späteren deutschen Apostel, zum König gesalbt. Kraft dieser Würde verlieh nun Pippin dem Papst die römischen Länder, die bis dahin Ostrom unterstanden hatten, deren Exarch aber bei der Eroberung von Ravenna durch die Langobarden vertrieben worden war.

So begann sich gleichzeitig mit dem Islam das westliche Abendland vom östlichen in seiner Zweiheit von Kirche und Reich, wie diese von Augustin formuliert worden war, zu befreien und eine politisch selbständige Entwicklung zu nehmen. Der Papst wurde Herr des Kirchenstaats. Er verbündete sich mit den Franken auch militärisch und beiden gemeinsam gelang die Niederwerfung der Langobarden. Pippins Sohn Karl der Große dehnte das Reich in Deutschland bis an die Elbe aus und ließ sich Weihnachten 800 in Rom zum Kaiser krönen. Er erneuerte damit bewusst das römische Reich. Hierbei kam ihm die Tatsache zu Hilfe, dass damals in Ostrom eine Frau, die Kaiserin Irene, den Thron innehatte; Karl ließ sich also tatsächlich zum Gegenkaiser ausrufen. Nach dem Sturz Irenes musste er sein Kaisertum gegen Ostrom in einem langwierigen Krieg verteidigen und war zufrieden, als ihm schließlich 813 der oströmische Kaiser den Titel Basileus zuerkannte.

Die legalistische Rechtfertigung für den Kirchenstaat wurde durch die sogenannte konstantinische Schenkung geschaffen, die erst 1440 von dem Humanisten Lorenzo della Valle als Fälschung entlarvt worden ist: Kaiser Konstantin I. hätte seinerzeit bei der Verlegung der Hauptstadt nach Konstantinopel dem Papst als Dank für seine Heilung vom Aussatz den Kirchenstaat zur Herrschaft übergeben. Vom damaligen Standpunkt aus war die Anfertigung der Urkunde jedoch keine Fälschung, sondern eine Forderung des theokratischen Denkens: wenn alles Recht aus Christus stammt, dann ist ein Rechtsbeschluss in seinem Sinn gültiger als alles Herkommen; der gleiche Gedankengang, zufolge dessen Pippin im Gegensatz zum legitimen Erben zum König gesalbt wurde.

Für die christlich gewordenen Germanen war Christus etwas anderes als für Römer und Griechen: er bedeutete im Sinne des mythischen Denkens die Ablösung der Herrschaft eines Gottes durch einen anderen, weil der neue sich als der mächtigere erwies. So war auch Karls des Großen Christentum von Anfang an theokratisch. Alle Untertanen mussten sich mit Anerkennung der staatlichen Oberhoheit bekehren lassen. Folgerichtig trat der Sachsenherzog Widukind nach langem Kampf gegen Karl zum Christentum über, da sich der christliche Gott als Sieger offenbarte und dadurch seinen Herrschaftsanspruch schlüssig bewies. Im Dom zu Aachen ließ sich Karl als göttlicher Herrscher huldigen. Gleichzeitig gründete er auch im antiken Geist eine Akademie, deren zwölf Mitgliedern er vorstand. So war er theokratischer und mythischer Kaiser zugleich. Wie Gregor der Große die Organisation der Kirche durchbildete, so schuf Karl über seine Grafen eine straffe Reichsverwaltung. Das Denken fand sein Betätigungsfeld hauptsächlich in der Sphäre des Rechts, der Abstimmung der germanischen Sitten und Privilegien auf die neue Ordnung.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
5. Das theokratische Denken
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