Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
6. Das scholastische Denken
Johannes Scottus Eriugena
Gleichzeitig mit Indien und China kam es auch in Europa zur Entwicklung des scholastischen Denkens. Das theokratische Denken hatte sich seit Augustin und Gregor dem Großen außerhalb der Philosophie bewegt; es bedeutete eine Synthese des theologischen mit dem mythischen Denken in dessen germanischer Ausprägung. Für ein Verständnis der antiken Philosophie fehlte sowohl das Wissen als auch die Einstellung. Auch die frühmittelalterliche Kirche lehnte die antike Tradition als heidnisch ab, da sie schwer in die beiden theokratischen Ideale der Heiligkeit und Ritterlichkeit einzubeziehen war. Doch auch im Westen hielt sich die antike Tradition: ihre Vertreter waren von den verschiedenen Germanenstämmen nach Westirland geflüchtet. Wir erinnern uns, dass die erste Missionierung Englands von irischen Mönchen durchgeführt worden war, die sich anstatt von Petrus vom Apostel Johannes herleiteten und später durch die römisch-angelsächsischen Missionare verdrängt wurden. Bei den irischen Mönchen war die alexandrinische Theologie weiter gepflegt worden. Aus ihrem Kreis stammte die erste Kenntnis des griechischen Denkens im Frankenreich, die von Johannes Scottus Eriugena vermittelt wurde.
Scottus Eriugena wurde um 815 geboren und starb gegen 877. Karl der Kahle betraute ihn 843 mit der Leitung einer Schule in Paris. Schon früh kam er in Schwierigkeiten mit der katholischen Orthodoxie durch Thesen, die er im Streit zwischen Gottschalk und dem Erzbischof Hinkmar von Reims zur Unterstützung des letzteren aufstellte. Der König bewahrte ihn vor der Verfolgung; seine erste These hingegen wurde von zwei Konzilen, 855 und 859, als Ketzerei und Schottischer Porridge verurteilt. Diese Ausgangsthese war die Gleichberechtigung von Offenbarung und Philosophie. Wahre Religion, so behauptete er, sei wahre Philosophie; ebenso sei wahre Philosophie wahre Religion. Doch wenn beide zu verschiedenen Schlüssen führten, dann müsse man den Vernunftschluss vorziehen, da er sich kontrollieren lasse.
Als nächstes wandte sich Scottus Eriugena der Übersetzung des Dionysius Areopagita zu, dessen Werke im westlichen Abendland unbekannt geblieben waren. Hiermit erlangte er großen Ruhm und fand vor allem eine Festigung und Bestätigung seiner eigenen Lehre, die er später in seinem griechisch geschriebenen Werk Über die Gliederung der Natur
vortrug. Dieses Buch ist von besonderer Wichtigkeit, weil in ihm erstmalig das Problem der Universalien auftauchte, an dem sich das ganze folgende scholastische Denken entfalten sollte.
Das Universalienproblem entstammt dem Konflikt zwischen Platon und Aristoteles: ist das Wesen der Wirklichkeit, die Wahrheit in den Begriffen und Ideen zu finden, deren Abbild die Welt darstellt, wie es Platon behauptet hatte, oder haben nur die Einzeldinge Wirklichkeit, und sind die Universalien bloße Bezeichnungen ohne eigene Wahrheit, wie es Aristoteles vertrat?
- Der platonische Standpunkt, dass die Ideen als Begriffe, als Universalia der Wirklichkeit zugrunde lägen, hieß realistisch,
- und der aristotelische, der in den Universalien bloße Namen der Einzeldinge sah und die Allgemeinbegriffe als Beziehungen zwischen den Einzelheiten auffasste, hieß nominalistisch.
Bei der alexandrinischen neuplatonischen Schule hatte diese Unterscheidung nur ein akademisches Interesse gefunden. Auch die ersten christlichen Theologen bis Augustin hatten dem Problem keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Durch die Lehre des Scottus Eriugena wurde der Gegensatz aber theologisch von ausschlaggebender Bedeutung: da Christus in der Theologie als der Logos definiert worden war, und Teilnahme am Logos allein Unsterblichkeit verhieß, müsste die Lösung dieses Problems den wahren Weg zur Unsterblichkeit offenbaren.
Die Tragweite des Universalienstreites wurde der Öffentlichkeit erst im 12. und 13. Jahrhundert bewusst, als die Bildung dank der Tätigkeit der neugegründeten, auf Studium eingestellten Orden — der Dominikaner, Franziskaner und Zisterzienser — wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit kam; vor allem aber über den Kontakt mit der arabischen Philosophie, durch den das aristotelische Gedankengut erstmalig in seiner Fülle zugänglich wurde. Doch der Anstoß kam von Scottus Eriugena; er vertrat unmissverständlich den neuplatonisch interpretierten realistischen Standpunkt.
Diese Formulierung stand im Gegensatz zur augustinisch-voluntaristischen Theologie. Bei Scottus Eriugena lässt sich Gott als Ursprung des Alls nicht definieren, sondern nur über das Nichts begreifen. In diesem Nichts bricht die dunkle Unruhe des Schöpfungswillens auf, durch die Schöpfung macht sich Gott zu einem Etwas, dem Ungeschaffen Schaffenden. Als solcher ist er dreieinig, weil er in sich Sein, Weisheit und Leben als Sinnbild von Vater, Sohn und Heiligem Geist hat.
Die Schöpfung, die aus der Dreieinigkeit entsteht, hat zwei Stufen:
- das Geschaffene Schaffende,
die platonischen Urbilder, - und das Geschaffene Nicht-Schaffende,
die Einzeldinge und Einzelindividuen in Raum und Zeit.
Diese Einzeldinge, von denen der Mensch ein Glied ist, haben in sich die Tendenz, wieder zu Gott zurückzukehren. Doch als Ziel ist dieser Gott weder geschaffen noch schaffend, er ist das Unerschöpfliche jenseits von Name und Form; erst die Teilhabe an ihm führt zur Unsterblichkeit.
Dieser Weg zum Unerschöpflichen geht über den Aufstieg von der Vielheit zur Einheit im Logos, den geschaffen schaffenden Ideen. Diese gilt es zu erwecken. Hier unterscheidet sich die Lehre des Scottus Eriugena von der alexandrinischen, die den Logos bereits mit Christus identifizierte; nicht die Teilnahme am Logos, sondern seine Beherrschung und damit die Meisterung der Logik macht den Menschen zum Gefährten der Dreieinigkeit und eröffnet ihm den Zugang zur Unsterblichkeit.
An dieser Stelle versuchte Scottus Eriugena eine Brücke zu Augustin zu finden, der die Lehre von der Erlösung der Individualität im Willen, in der Einzigkeit vertrat: die einzelnen Seelen seien in der Teilnahme nicht ausgelöscht, sondern verhielten sich wie der einzelne Funke zum Feuer im glühenden Eisen.
Schöpfung
1. | Nichts dunkle Unruhe des Schöpfungswillens |
||
2. | Etwas: Ungeschaffen Schaffendes Vater, Sohn, Heiliger Geist Sein, Weisheit, Leben |
3) | Teilhabe an der Unsterblichkeit |
3. | Geschaffen Schaffendes Logos, Ur-Ideen |
2) | Meisterung der Logik |
4. | Geschaffens nicht-Schaffendes Einzeldinge in Raum und Zeit |
1) | Mensch |