Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

1. Das kosmische Denken

Homo Faber

Der homo faber blieb in seinem Vorstellungskreis der Natur eingeordnet. Vor zehntausend Jahren kam es nun im Diluvialmenschen zu Beginn des Alluviums zu einer echten Mutation: er erwachte aus der Bewusstheit zum Bewusstsein. Der Diluvialmensch wandelte sich zum Alluvialmenschen, aus dem homo faber wurde der homo sapiens mit der Fähigkeit der Selbsterkenntnis und Überlegung.

Im Diluvialmenschen wechselten Wachen, Träumen, Schlafen und vorstellungsbedingtes Verhalten einander im Tageslauf ab. Es gab also noch kein beharrendes Ich, kein Bewusstsein, sondern nur eine Bewusstheit mit wechselnden Inhalten, von denen einer — der Tiefschlaf — Inhaltslosigkeit bedeutete und die Kontinuität unterbrach. Um ein Ich in der Fülle der Erfahrungen, Erlebnisse und Vorstellungen kontinuierlich zu schaffen, galt es nun, diese Zeit in eine Einheit zu verwandeln.

Dieses Bestreben nach einem kontinuierlichen Bewusstsein führte zum ersten Denkstil der Geschichte: dem kosmischen Denken. Der Mensch erlebte sich in der totalen Umwelt und versuchte ihr die Kategorien seines Bewusstseins zu entnehmen. Als Grundlage dieser Ordnung trat nun als erstes die Unterscheidung von Raum und Zeit, von Ruhe und Bewegung. Vom Raum aus gesehen bildet die Umwelt drei verschiedene Bereiche: Erde, Unterwelt und Himmel.

  • Die Unterwelt wurde als wässrig vorgestellt, da die Erde einerseits von Wasser umgrenzt ist, andrerseits man auch durch das Graben in der Erde auf Grundwasser stößt. Sie galt als das Reich der Toten.
  • Die Oberwelt, der Himmel, galt als das Reich der Götter, die mit Sternen und Sternbildern identifiziert wurde,
  • und die Erde selbst als das Menschenreich.

Der Wandel der Erscheinungen auf der Erde in ihrer unübersehbaren Mannigfaltigkeit schien jeder begrifflichen Fassung zu entgehen. Doch in der Himmelsbewegung fand der Alluvialmensch Kriterien, die einen regelmäßigen Ablauf zu garantieren schienen und auch mit dem Wechsel der Jahreszeiten in Einklang stehen. Sie gliederten sich in zwei Bereiche:

  • erstens den Fixsternhimmel mit dem Tierkreis, der sich einmal am Tag um die Erde zu drehen scheint,
  • und zweitens die Wandelsterne, Sonne, Mond und Planeten, welche das Jahr in bestimmte Abschnitte zu gliedern vermögen.

Als Hauptfaktoren boten sich Sonne und Mond an, und so kam es schon im Anfang der bewussten Menschheitsentwicklung zu der Zwölfteilung der Sonnenbahn im Jahr in die Konstellationen des Tierkreises.

Die Beobachtung der Himmelsbewegungen geschah nicht auf astrologisch-wissenschaftliche Weise als Theorie, sondern im Rahmen der vier Koordinaten des Bewusstseins. Was zu ordnen war — die Vielfalt der Instinkte und Beobachtungen — war gegeben; das zaghaft erwachende Bewusstsein stand nicht einer Leere gegenüber, sondern einer Fülle von Erscheinungen und inneren Bildern, die es zu interpretieren und zu gliedern galt. Bei dieser Gliederung wurden alle Elemente, die sich in der Vorstellung als wirksam zeigten, gleichmäßig verwendet: dem in mythischer Offenbarung geschauten Bild oder der träumenden Phantasie wurde der gleiche Wahrheitsgehalt zuerkannt wie der tatsächlichen Beobachtung oder Schlussfolgerung. So entstand als erster Bewusstseinsrahmen der Tierkreis mit seiner zwölffältigen Gliederung, wie sie heute noch geläufig ist. Die vier Koordinaten wurden mit den vier Sonnenstellungen identifiziert:

  • der Sonnenaufgang mit dem Mythos,
  • der Mittag mit dem Wachen,
  • die Mitternacht mit der Traumwelt
  • und der Sonnenuntergang mit der Lebenswelt
    und der Geselligkeit.

Die Sterne wurden zu Konstellationen, zu Figuren zusammengefasst, die dem Menschen in mystischer Schau gewisse Charakteristiken offenbarten; sie wurden als Zugang zu einer bestimmten Himmelsregion, einer bestimmten Götterwelt betrachtet. Der Vorgang der Benennung, der in verschiedenen Ländern auch manchmal verschiedene Sterne zu Gruppen zusammenfasste, begann mit der Ekliptik, bezog aber bald den gesamten sichtbaren Himmel ein. Noch aus der mythischen Spätzeit werden solche Vorgänge berichtet; laut griechischer Mythologie soll Zeus das Zwillingspaar Kastor und Pollux als unsterblich in den Himmel versetzt haben; und die Inder berichten von sieben Rishis, die ihre Unsterblichkeit als Sternbild des Großen Bären erreichten. Einer von ihnen sei verheiratet gewesen: das moderne Teleskop erwies ihn als Zwillingsstern.

Die innere Schau, teils über den Traum, teils aber auch mittels Einnahme von Rauschgiften erreicht, offenbarte dem Menschen einerseits die mythischen Bilder, andrerseits aber auch astronomische Tatsachen, die wir erst heute dank der Fernrohre verifizieren können; so wussten die Maoris bei ihrem ersten Kontakt mit den europäischen Reisenden schon von den Saturnringen. Um die alten Kulturen zu verstehen, müssen wir daher das heutige wissenschaftliche Vorurteil aufgeben: nicht nur das mit dem Experiment gekoppelte theoretische Denken, auch die mystische Versenkung und der Traum vermitteln echte Erkenntnisse. In unserer europäischen Geistesentwicklung sind die entsprechenden Fähigkeiten während der letzten zweitausend Jahre verkümmert; doch bestehen sie noch ungebrochen in manchen anderen Kulturen weiter, so in Indien und bei den südamerikanischen Indianern. Und da zeigt es sich, dass die Erkenntnisweisen ganz bestimmte Kategorien haben, die mit den Bildern des Tierkreises der Sonne und den Planeten identifiziert wurden: nur aus tatsächlichen Raum- und Zeitfaktoren ließen sich Begriffe bilden, welche Raum- und Zeitvorgänge zu umfassen vermochten.

Diese kategoriale Gliederung ist nun die älteste der Geschichte und findet sich auf der ganzen Erde. Sie ist viel umfassender als die heutige astrologische Einteilung; da die Sterne nicht als Wesenheiten, sondern als Raumzeitfaktoren genommen wurden, bezeichnen wir diese Denkungsweise als den kosmischen Denkstil.

Die ersten raumzeitlichen Kategorien ergaben sich durch den Sonnenlauf. Wir erwähnten schon die Bedeutung der vier Sonnenstellungen im Tageslauf. Ihm entspricht die Gliederung des Jahres nach Frühlings-Tagundnachtgleiche, dem längsten Tag, der Herbst-Tagundnachtgleiche und dem kürzesten Tag.

Hiermit wurde das Jahr in vier Quadranten gegliedert, Frühling, Herbst, Sommer und Winter; da nun ferner die Sonne im Tageslauf im Osten aufgeht, im Süden kulminiert, im Westen untergeht und um Mitternacht im Norden die Himmelstiefe erreicht, bilden sich folgende Entsprechungen zum Wesenskreis, wobei die Himmelsrichtungen im Verhältnis zur Landkarte mit einer Drehung von 180° dargestellt wurden:

Tod
Osten
Frühlingspunkt
Morgen
Wachen
Süden
kürzester Tag
Mittag




Nacht
längster Tag
Norden
Traum
Leben
Westen
Herbstpunkt
Abend

Zu den astronomischen Kategorien traten die Entsprechungen der Bewusstseinszustände. Das Fühlen vermittelt den Zugang zur Tierwelt, das wache Empfinden — vor allem mittels der Intensivierung durch pflanzliche Drogen oder Pilze — jenen zur Pflanzenwelt. Überall auf der Erde gibt es den Mythos vom Weltenbaum, dessen Wurzeln im Himmel sind und dessen Krone auf die Erde reicht: eine Darstellung des Menschen mit seiner aufrechten Struktur und dem Nervensystem, dessen Wurzeln gleichsam im Gehirn liegen. Die ersten Mythen schildern den Menschen als Vereinigung von Pflanze und Tier, nicht als ein Tier unter anderen wie die Evolutionstheorie. Diese Vorstellung wird uns aus einer Gegenüberstellung der Lebenreiche verständlich:

Pflanze

Mensch


Protist
(Kristall)
Tier

Der Einzeller ist relativ unsterblich, ebenso wie das Kristall; nur durch Zufall sterben Amöben.

Pflanzen und Tiere, vielzellige Organismen, haben den Tod einprogrammiert; ihr Sterben dient dem Kreislauf des Lebens, der Evolution.

Wenn nun die unterste Stufe unsterblich ist, und die mittlere sterblich, dann muss der Mensch, als oberste, sowohl sterblich als auch unsterblich sein. Die Zellen dienen den Pflanzen und Tieren als Gefährt; die Tier- und Pflanzenorganismen dienen jenem Etwas zum Gefährt, das in ihnen entstehen kann: dem menschlichen Bewusstsein, das die Vielfalt der Organe in gleicher Weise als Werkzeug zu seiner Verwirklichung verwendet, wie Pflanzen und Tiere die Zellen. Die Frage ist also nicht, ob der Mensch unsterblich sei, sondern wie er unsterblich ist: die Mittel und Wege ausfindig zu machen, wie er aus der Verhaftung an Tier und Pflanze in die Freiheit, die Spontaneität des Bewusstseins aufsteigen kann.

Bei den Indianern der großen Ebene — deren Mythen, wie ich später zeigen werde, bis an das Erwachen des Bewusstseins heranreichen — wird das erste Unglück der menschlichen Existenz auf die Trennung der pflanzlich und tierisch betonten Menschen, der Jäger-Krieger und der Pflanzer-Pueblos zurückgeführt; auf eine Auseinandersetzung zwischen zwei Schwestern. In den mystischen Traditionen, wo die beiden Welten als männlich-tierisch und weiblich-pflanzlich vorgestellt wurden, war die Vereinigung der Gegensätze die Voraussetzung des wahren Bewusstseins, der zweiten Geburt.

Eine andere Entsprechung ergibt sich aus der Rolle der Bewusstseinszustände im Traum, wo die vier Funktionen (wie Gaston Bachelard gezeigt hat) sich als die vier Elemente der grobstofflichen Erfahrung darstellen, wobei der Traum in seiner stellvertretenden Wunscherfüllung Mängel andeutet:

Erde
empfinden
Luft
denken


Feuer
wollen
Wasser
fühlen
  • Ein mangelndes Denken äußert sich in der Vorstellung des Fliegens, gleichsam um die Übersicht zu erlangen;
  • ein mangelndes Fühlen taucht ins Wasser, um den Kontakt mit dem Unterbewussten wieder herzustellen;
  • ein mangelndes Empfinden gräbt etwa in der Erde, um Gold oder Edelsteine zutage zu bringen,
  • und ein mangelndes Wollen äußert sich im Brennen der Läuterung.

Diese Ordnung entspricht ferner der äußeren Erfahrung: der Himmel ist luftig, die Unterwelt — wie die Vulkane zeigen — feurig; Erde und Wasser befinden sich im Gleichgewicht, der höchste Berg entspricht dem tiefsten Meeresgraben.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
1. Das kosmische Denken
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