Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

7. Das humanistische Denken

Philosophie der Gestaltung

Seit dem Altertum hatte die Beurteilung der Musik im Weltbild nicht eine periphere, sondern eine zentrale Bedeutung gehabt. Bei Pythagoras, dem Begründer der Mathematik als Ursprung des naturwissenschaftlichen Denkens, war diese bekanntlich mit der Harmonik gleichgesetzt worden. Musik galt neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie im Quadrivium als Grundlage der höheren Erkenntnis, ja als vor den anderen bevorzugt, da sich die Gültigkeit der mathematischen Proportionen und ihre mögliche Verschmelzung zu Melodien, zu raumzeitlichen Abläufen sinnlich nachprüfen lässt. So war Musik das Mittel, um das menschliche Gemüt in Einklang mit den Gesetzen des Kosmos zu bringen. Der Philosoph Boëthius, der 524 n. Chr. hingerichtet worden war, prägte im Anschluss an den alexandrinischen Neupythagoräismus eine Auffassung der Musik, die mit der Renaissance grundlegend werden sollte. Ihrzufolge gliedert sich die Musik in drei Zweige: in die

  • musica mundana, als Spiegel der makrokosmischen Planetenumläufe, der Harmonie der Sphären, in die
  • musica humana, als Spiegel der mikrokosmischen, elementargesteuerten menschlichen Triebe und Leidenschaften, und in die
  • musica instrumentalis, deren Aufgabe es wäre, Makrokosmos und Mikrokosmos in der Kunst zu vereinen, um die Harmonisierung von beiden Welten im menschlichen Bereich hörbar und erlebbar zu machen.

Musik war für Ficino die Basis des Philosophierens, weil unser Geist, der Himmel, ja selbst das ganze Universum auf den Proportionen der Musik aufgebaut sind. Die gleiche musikalische Interpretation meint Albertis berühmte Schilderung des Schönen: Die Harmonie und der Zusammenklang aller Teile werden auf diese Weise derart erreicht, dass nichts mehr hinzugefügt noch weggelassen werden könnte, ohne die Gesamtwirkung zu verschlechtern. Und Leonardo da Vinci, selbst ausübender Musiker, erklärte: Das gleichzeitige Erfassen aller Einzelheiten eines Gemäldes schafft einen harmonischen Zusammenklang, der für das Auge ein gleichartiges Erlebnis ist wie für das Ohr, wenn es Musik hört.

An die Stelle der Einheit und der Geschlossenheit der philosophischen Summen trat für die humanistischen Denker die geforderte Einheit der Gestaltung. Hierzu kam eine weitere wesentliche Unterscheidung: gegenüber dem theologischen Gegensatz von christlich und heidnisch kam der alte pythagoräische von exoterisch und esoterisch, profan und okkult wieder zur Geltung. Das letztere Gebiet umfasste sowohl jenes philosophische Wissen, das im Widerspruch zur kirchlichen Lehre stand und wegen Lebensgefahr für seine Vertreter geheim gehalten werden musste, als auch die mystischen, alchemistischen, kabbalistischen und astrologischen Lehren, deren Studium nicht auf objektive Weise durchzuführen ist, da es eine Wandlung des Menschen selbst, seiner Erkenntnisfähigkeit und psychischen Einstellung erfordert.

Seit Verdammung der Gnosis war der Weg der Erkenntnis als Erlösung im Abendland verdrängt worden. Je mehr sich die Kirche erst im Frühmittelalter antiintellektuell, dann aber in scholastischer Verhärtung darstellte, desto mehr betrachteten sich die Nachfolger der Gnostiker als die eigentlichen Heilsträger, zum Teil sogar als die wahren Christen im Gegensatz zu den kirchlichen Scheinchristen. Dennoch bedeutete die okkulte Philosophie der Florentiner einen neuen Ansatz: ihr Ziel war nicht, wie bei den adeligen Alchemisten, die Vereinigung mit der Urkraft über den Weg des Experiments, sondern wie bei Eckhart die Erringung des schöpferischen Vermögens, allerdings in Richtung auf die künstlerische Gestaltung. Weder Ficino noch Pico della Mirandola wollten originelle systematische Philosophen sein; beide waren Kompilatoren des alten Wissens, einerseits der esoterischen Traditionen und andrerseits der Ars Magna des Raymundus Lullus. Dieser hatte wie erinnerlich als erster die philosophischen Kategorien aus ihrem ontologischen Rahmen — sei es als Entelechie wie bei Thomas, sei es als bloß wissenschaftliche Begriffe wie bei den englischen Nominalisten — herausgenommen. Er ordnete sie auf einem mechanischen Modell in konzentrischen Kreisen an und behauptete, dass alle philosophischen Probleme sich aus ihren Kombinationen lösen ließen, wenn man die Begriffe nur richtig zueinander in Beziehung setze und verbinde. Bei den Scholastikern hatten die Theorien Lulls zwar Interesse gefunden, waren jedoch von den meisten als Spielerei verurteilt worden. Von den Florentiner Philosophen wurde die lullische Kunst aufgenommen, da sie mit der Philologie in engem Zusammenhang stand; auch die Sprache lässt sich auf eine mehr oder weniger freie Kombination von Buchstaben zu Worten, von Worten zu Sätzen und von Sätzen zu den verschiedenen Arten der Stile zurückführen: der Dichtung, der wissenschaftlichen Abhandlung oder des Dramas. Ihre metaphysische Untermauerung und Rechtfertigung fand sie in der Wiederaufnahme der Lehre von den stoischen rationes seminales, den keimhaften Seinsgründen, die aber nicht, wie bei den Kirchenvätern, mit den Engeln, sondern mit den platonischen Ideen als Ursprung aller Gestaltung identifiziert wurden.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
7. Das humanistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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