Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

7. Das humanistische Denken

Rationes Seminales

Gott erschuf die Welt mittels der schöpferischen Ideen, welche zu ganz bestimmten Ausprägungen im Sinne der Entelechie angelegt sind. Laut Albert und Thomas seien diese Ideen im Ziel der Vollendung des Menschen auf der Erde im Bilde des Gottessohnes als Logos, als höchste Möglichkeit des Einzelnen zu verstehen. Ficino und Pico della Mirandola interpretierten sie auf neue Weise: wenn der Mensch diese Ideen in seinem Geist verstünde, so würde er schöpferisch wie der Vatergott selbst. Um eine spätere Formulierung Albrecht Dürers vorwegzunehmen:

Wenn jemand wirklich diese inneren Ideen besäße, von denen Platon spricht, dann könnte er sein ganzes Leben aus ihnen schöpfen und Kunstwerk nach Kunstwerk schaffen, ohne je damit an ein Ende zu kommen.

Die rationes seminales sind einerseits über die pythagoräisch verstandene Zahl, andrerseits über das schöpferische Wollen im Sinne der Kabbala und schließlich über die ptolemäische Astrologie zu verstehen: Zahl, Wort, Mensch und Kosmos lassen sich im Sinne des Ramon Lull als aus Komponenten zusammengesetzt begreifen, die der gestaltende Künstler zu erkennen sucht. Ihre Kombination lehrt einerseits die Geometrie, andrerseits die Kabbalistik und Astrologie. Diese Lehre wurde von zwei deutschen humanistischen Denkern weiterentwickelt: von Johannes Reuchlin, 1455-1522, der sich auf die Vereinigung von hebräischer Kabbalistik und Neuplatonismus konzentrierte und die jüdischen philosophischen Schriften in Köln vor der Verbrennung durch die Dominikaner rettete; und von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, 1486-1535, der lullische Gedanken durch magische Praktiken ergänzte und den Begriff einer okkulten Philosophie in Deutschland bekanntmachte.

Auch die Bauhütten und die Alchemisten hatten ihre Rezepte vor Nicht-Adepten geheimgehalten, teils aus Furcht vor der Orthodoxie, teils aus Zunftgeist. Dieser übertrug sich nun auch auf die großen Künstler der italienischen Renaissance, die den Ruf hatten, auf Grund ihrer Kenntnis der rationes seminales die Geheimnisse der Gestaltung zu besitzen. So sehen wir z. B. Albrecht Dürer einen venezianischen Maler, Jacopo de’ Barbari, durch Jahre verfolgen, der sich aber weigerte, ihm sein Geheimnis zu verraten. Schließlich stellte Dürer seine Auffassung der Grundlage allen Malens in seinen verschiedenen Traktaten über Proportion dar, die den Geist des humanistischen Denkens vielleicht am klarsten verkörpern. Wie einst bei den Zen-Buddhisten war das Wissen nicht mehr Gelehrsamkeit, sondern Gestaltungswerkzeug; mit dem Unterschied, dass die Gestaltung nicht einem vorgegebenen kosmischen Weltbild, sondern der freien Schöpfung zu dienen hatte; in seiner Gestaltungsfähigkeit allein wurde der Mensch als göttlich oder der Gottheit teilhaftig empfunden.

Wenn nun diese neuartige Teilnahme oder platonische Methexis den Geist des Menschen befreit, so ist ihre Erkenntnis wichtiger als das Studium der Offenbarung. Mit dieser Auffassung lebte die antike Skepsis wieder auf, die ihren hervorragendsten Vertreter in Frankreich in Michel de Montaigne, 1533-1592, fand, der die Form des freien philosophischen Essays wieder zur Geltung brachte. Auch die anderen antiken Richtungen fanden Nachfolge: der Epikuräismus wurde durch Pierre Gassendi, 1592-1655, und der Stoizismus durch Justus Lipsius, 1547 bis 1606, wiederbelebt. Der Humanismus ergriff selbst die Kirche in einem so hohen Maße, dass Lorenzo della Valle, 1405-1457, der die konstantinische Schenkung als Fälschung entlarvte und damit dem juristischen Herrschaftsanspruch des Papstes im Investiturstreit den Boden unter den Füßen entzog, zeitlebens gefeierter Lehrer und Beamter am päpstlichen Hof bleiben konnte. Die Zahl der gelehrten Interpreten aller Richtungen des Humanismus war groß. Doch auch im theologischen Denken wurde die Umkehr zum neuen Stil vollzogen und sollte die spätere systematische Philosophie entscheidend beeinflussen: der Kardinal Nicolaus Cusanus fand im systematischen Denken das Bindeglied von der Scholastik zum Humanismus.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
7. Das humanistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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