Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

7. Das humanistische Denken

Staatsphilosophie

Thomas Morus, ein Freund des Erasmus von Rotterdam, den er auf das Studium der antiken Schriften gebracht hatte, war unter Heinrich VII. von England Führer der parlamentarischen Opposition, später Kanzler Heinrichs VIII. Von anderen Staatsmännern seiner Zeit unterschied er sich durch die Unbestechlichkeit, die er aber nicht nur gegenüber seinen Untergebenen, sondern auch seinem Herrn bewahrte. Als Heinrich VIII. sich anstelle des Papstes zum Oberhaupt der englischen Kirche erklären ließ, weigerte sich Thomas Morus, ihm den Treueeid zu leisten und wurde unter Anklage des Hochverrats hingerichtet.

Das wesentliche Werk des Thomas Morus ist sein Roman Utopia, Nirgendwoland, in dem er auf einer Insel eine vollendete kommunistische Gesellschaftsordnung schilderte. Alle Bürger haben gleiche Rechte und gleiche Pflichten, der Besitz ist gemeinsam. Der Staat ist überaus moralisch, Ehebruch wird strengstens geahndet. Es gibt kein persönliches Eigentum, da sonst keine Gleichheit bestehen könnte. Alle Bürger arbeiten sechs Stunden am Tag, gehen um acht Uhr schlafen, schlafen auch acht Stunden. Morgens gibt es drei Stunden Vorlesungen zur Bildung, deren Besuch frei ist, die aber von den meisten angehört werden. Die Nachttöpfe sind aus Gold, um die Verachtung des Reichtums zu dokumentieren. Obwohl die Bewohner kriegstüchtig sind, ziehen sie es vor, Kriege durch Söldnerheere durchführen zu lassen. Vorher versuchen sie aber, durch Bestechung den gegnerischen Fürsten auf ihre Seite zu gewinnen.

Heute ist man infolge der politischen Spannung gewohnt, den Individualismus als Gegensatz des Kommunismus zu begreifen. Ursprünglich sind beide Kinder des gleichen humanistischen Geistes, der gegen die ständische Ordnung rebellierte; die Erreichung der Gleichheit und Selbständigkeit wird nur auf verschiedenen Wegen versucht. Die kommunistische Ideologie fand mehr Anklang bei denen, die nach Sicherheit strebten, die individualistische bei denen, die freie Entfaltungsmöglichkeiten für ihre Initiative suchten.

Die freie Initiative erhielt ihre denkerische Rechtfertigung im Werk Niccolò Machiavellis. Auch sein Ziel war die Befreiung des Einzelnen. Da nicht jeder Mensch in gleichem Maße Mut und Initiative habe, könne nur der Diktator oder der große Fürst die Voraussetzung für ein friedliches Staatsleben schaffen. Hierzu müsse er im Gegensatz zur Ethik des Mittelalters Mittel und Ziele trennen. Er müsse Unrecht begehen, um einen Rechtsstaat begründen zu können. Er solle jeder Perfidie gewachsen sein, ja sie noch übertrumpfen, sonst werde er nie die Macht erlangen; denn im politischen Leben bedeute Moral nur eine Verbrämung wirtschaftlicher Interessen.

Diese Trennung von Ziel und Methode hat Machiavelli seines negativen Ruf eingetragen. Tatsächlich schilderte er nur die Untergründe des politischen Lebens, wie es sich nach der Lösung aus dem hierarchisch-scholastischen Denkstil entwickeln musste. So bedeutete Machiavelli einen Leitfaden zur Macht im Zeitalter des Frühkapitalismus und das Werk von Thomas Morus eine echte Utopie im heutigen Sinn. Doch die tatsächliche Verwirklichung einer neuen Ordnung, die allerdings noch lange auf sich warten ließ, kam nicht aus der politischen Philosophie, sondern wie einst in der Antike über die Schaffung eines neuen Rechtsbegriffes.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
7. Das humanistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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