Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
8. Das rationalistische Denken
Baruch Spinoza
Der nächste wesentliche Schritt in der Entwicklung der Substanzphilosophie kam mit Baruch Spinoza, der 1632 in Amsterdam geboren wurde und 1677 in Den Haag starb. Er verdiente seinen Unterhalt als Brillenschleifer und lebte zurückgezogen. Einen Ruf, nach Heidelberg als Professor zu kommen, lehnte er ab, um sich nicht in Disputationen über seine Lehre einlassen zu müssen.
Spinoza überwand den Dualismus des Descartes durch die Lehre von der einen unendlichen Substanz, die als Gott oder als Natur, deus sive natura, zu bezeichnen wäre. Alles andere sei abgeleitet und hätte nur insoweit Bestand, als es an der Substanz teilhat; denn jede Bestimmung bedeutet bereits eine Begrenzung, etwas Negatives: omnis determinatio est negatio; Gott allein ist positiv. Die zwei Attribute der Substanz seien cogitatio et extensio, Denken und Ausdehnung, die immer zusammen auftreten, in Gott unbeschränkt, in der Vielzahl der existierenden Einzelwesen beschränkt. Es gebe nur eine Wahrheit, die über die Vernunft zugänglich ist. Die Gesetze der jüdischen Religion zielen nicht auf das Verstehen, sondern auf den Gehorsam; deshalb sei ihr gedanklicher Inhalt der Kritik zu unterwerfen.
Im Gegensatz zu Hobbes lehnte er eine absolute Macht des Staates ab. Nicht die Überzeugung, sondern nur die Handlungen seien der Staatsgewalt unterzuordnen, und die Stellung des Fürsten habe sich auf seine tatsächliche Funktion im Gemeinwesen zu beschränken.
Spinoza vereinte die kartesische Philosophie mit der neuplatonischen und einer verwandelten kabbalistischen; die magische Kabbala lehnte er ab. Wegen seiner Lehre wurde er als Pantheist und Atheist angeprangert und aus dem Judentum ausgeschlossen. Doch konnte er dank der in Holland herrschenden Toleranz, deretwegen schon Descartes sich dorthin zurückgezogen hatte und Hobbes sowohl als auch später Locke ihre Bücher dort drucken ließen, ungehindert der Entwicklung seiner Lehre leben.
Das Hauptwerk Spinozas ist die Ethik, die er im Sinne des Descartes auf geometrische Weise aus der unendlichen Substanz ableitete. Alle Leidenschaften, die den Menschen tatsächlich ins Leiden führen, entstehen, weil die Emotionen nicht positiv im Zusammenhang des Denkens angejocht werden. Kennt der Mensch die Struktur der geistigen und psychischen Wirklichkeit, indem jeder seiner Erkenntnisbegriffe adaequat ist, das heißt in syllogistischer und geometrischer Ableitung in Zusammenhang mit allen anderen steht, dann wird er seiner Affekte Herr. Diese sind also nicht etwas Negatives und zu Überwindendes, sondern stellen die keimhafte Potentialität der menschlichen Entwicklung dar. Höchste Tugend ist für Spinoza das Erfüllen der eigenen Anlage ganz im Sinne des indischen Karma-Dharma-Denkens.
Wird die adaequate Erkenntnis erreicht und sind die Leidenschaften der geistigen Strebensrichtung untergeordnet, dann erreicht der Mensch die Selbstbestimmung, da sein Intellekt im Einklang mit dem unendlichen Intellekt Gottes sein wird. Dieser Zustand bedeutet die Liebe als amor intellectualis, von Gott zu den Menschen und den Menschen zu Gott ist sie identisch. Je mehr der Mensch von ihr erfüllt wird, desto mehr hat er schon im Leben an der Unsterblichkeit teil.
Der Sinn der Ethik Spinozas ist eindeutig. Doch die syllogistischen und theoretischen Mittel, mit denen er sie entwickelte, scheinen oft gewaltsam und setzen Tautologien neben echte Erkenntnisse. Seine Argumente waren, wie Leibniz anlässlich eines Gesprächs bemerkte, oft nicht durchdacht. So hat auch nicht sein System, sondern seine Intention befruchtend auf die Philosophie gewirkt.
Spinoza erlebte Gott als die einzige Substanz; nur in der Teilhabe an dieser könne das in Ausdehnung und Denken geschiedene Einzelwesen die Unsterblichkeit erreichen. Hier folgte er der jüdisch neuplatonischen Lehre, welche die Unsterblichkeit als Teilhabe am allgemeinen Intellekt und der Weltseele, also pantheistisch, definiert, was zur christlichen Vorstellung von der unsterblichen Einzelseele und ihrem Willen als entscheidenden Faktor der Erlösung in Widerspruch stand. Descartes hatte dagegen die Substanz dualistisch verstanden, als zwei Wesenheiten mit realer Existenz, Denken und Ausdehnung, die sich nur in Gott vereinten. Wie aber Denken und Ausdehnung in der Welt aufeinanderwirkten, war aus der kartesischen Lehre nicht abzuleiten. Leibniz nun verstand es, die Gedanken beider in seinen Lehren von den Monade, den Erkenntnisstufen, den allmählichen Übergängen, der prästabilierten Harmonie, der Compossibilitas und der bestmöglichen aller Welten zu einer Synthese zu bringen.