Schule des Rades

Arnold Keyserling

Vom Eigensinn zum Lebenssinn

Einführung

Anamnese und Maieutik

Pädagogik wurde in den letzten Jahrhunderten als Erziehung zu einer bestimmten patriarchalischen Norm verstanden. In den Worten von John Locke galt der Schüler als tabula rasa, auf der durch die Erziehung, durch Ausrottung des Bösen und Betonung des Guten, ein Charakter, eine Ethik entwickelt und so ein vernünftiger Staatsbürger erwachsen sollte. Diesem Bild liegt die Vorstellung des bürgerlichen Individualismus zugrunde, dass die Welt ein rationales Ergebnis der Bemühungen Einzelner sei, deren erstes Ziel die Unterdrückung der triebhaft-tierischen Anlage zugunsten des akademisch verstandenen Geistes, der Zivilisation ist. Ferner wurde die Erziehungswissenschaft als eine Wissenschaft unter anderen verstanden, deren Ziel eine Meisterung ist; man lernt, um dann einen bestimmten Beruf auszuüben; die Schule ist die Vorbereitung für das praktische Leben, wo jeder seine gewisse Situation und seine Funktion in der Gesellschaft hat. Hierzu kommt, je nach politischer Ausrichtung, die Rolle im Produktionsprozess oder in der politischen Hierarchie. So wäre der ideale Erziehungswissenschaftler jener, der der herrschenden Anpassungsideologie am willfährigsten dient, wobei die Menschen als Glied der Klasse, der Stände, der Bekenntnisse mit ihrer materialen Ethik statisch-bildhaft begriffen werden.

Diese Einstellung hat sich seit den Sechzigerjahren grundlegend geändert. Der bürgerlich-funktionale Individualismus der Anpassung und des Erfolges ist tot, der wirtschaftlichen Expansion sind Grenzen gesetzt, die äußeren Aufstiegschancen werden immer geringer, gleichzeitig aber ist in den Industriestaaten das Überleben, früher das Hauptanliegen des größten Teiles der Menschen, kein Problem mehr, die soziale Sicherheit ist ziemlich gewährleistet. Aber gerade aufgrund des Verschwindens der Angst ums bloße Überleben tritt eine andere Problematik in den Vordergrund: Die Frage nach dem Sinn des Daseins und des Lebens, der persönlichen Aktualisierung; die Frage nach dem Sein anstelle des Habens, in der Terminologie von Fromm. Und schließlich wird das Lernen, das Aufnehmen nicht mehr zum Mittel zur Erreichung beruflicher Funktion in der Gesellschaft im Maßstab der Diplome verstanden, sondern als Grundcharakteristik des menschlichen Lebens.

Das deutsche Wort Erziehen bringt die Vorstellung eines Ziels mit sich, auf das das Kind gegen seinen Willen — Eigensinn — gleichsam gezogen wird, wobei der Erzieher Macht darüber ausübt, es nach seinen Vorstellungen lenkt. Pädagogik dagegen heißt Führung eines selbständigen Kindes, Entwicklung seiner Anlage. Während die Erziehung — vor allem die sogenannte schwarze Erziehung, wie sie Alice Miller so gut beschreibt — das Kind in vorgegebene kulturelle Schemata pressen will, sollte die Pädagogik dem Wachstumsstreben des Kindes, ja des Menschen, nachkommen, also die Fähigkeit des Lernens überhaupt entfalten. Dass diese das biologische Kennzeichen des Menschen ist — sobald er nicht mehr lernt, regrediert er und kommt in starre Verhaltensschemata — ist das Lernen zu lernen das eigentliche Ziel der Pädagogik. Damit ist aber Pädagogik keine Wissenschaft im Sinn der Objektbezogenheit, sondern sie ist subjektbezogen, Philosophie. Sie lässt sich vielleicht am besten mit den beiden Begriffen des Sokrates, Anamnese und Maieutik bezeichnen.

Bekanntlich bestimmte Sokrates seine philosophische Existenz und Methodik aus seiner Herkunft: Sein Vater war Bildhauer, seine Mutter Hebamme.

  • Gleich dem Bildhauer gelte es, die verborgene Gestalt, die Struktur, aus dem Stein, aus der Anlage herauszuschälen; die Philosophie geht also von einer bestimmbaren, unbewussten Anlage aus, die es zu entschlüsseln und zu integrieren gilt.
  • Und gleich der Hebamme gelte es, das Kind zum Atmen, zum selbständigen Denken und Leben zu erwecken. Das Ziel ist also nicht Bildung oder Kultur, sondern die Einheit von echtem Wissen und Kompetenz zu erwecken, das Subjekt herauszuschälen und dem Menschen, in den Worten Kants, von der Fremdbestimmtheit zur Selbstbestimmtheit zu verhelfen.

So ist der traditionelle Weg der Erziehung eine Beengung und Anpassung, jener der philosophischen Pädagogik einer der Befreiung und Entfaltung des Gegebenen, sofern die Vereinigung von Anamnese und Maieutik als Methodik möglich wäre. Diese ist nun heute dank der Veränderung der wissenschaftlichen Voraussetzungen, des sogenannten paradigm shift, zum ersten Male möglich geworden.

Naturwissenschaft, Verhaltenslehre, vergleichende Anthropologie und Ethnologie, Bewusstseinsforschung, Psychologie und Religionswissenschaft, sie alle haben Daten gebracht, welche das bisherige Menschenbild als unzulänglich entlarven und die Schaffung einer echten, menschengemäßen Pädagogik möglich erscheinen lassen.

Zu diesem Beruf gilt es, die Erkenntnisse der verschiedenen Gebiete auf die Pädagogik zu eichen, in philosophischer Terminologie also Grenzüberschreitungen vorzunehmen. Denn der Mensch als jener, der Wissenschaft betreibt, ist jenseits ihrer in seinem Subjekt, ist ihr Spieler, im Sinn von Wittgensteins Sprachspiel und J.M. Hauers Zwölftonspiel; er wird teilhaftig in seiner Kreativität der Kraft der Evolution, des göttlichen Grundes, oder der Liebe. Dies setzt voraus, dass er die Kriterien der subjektiven Wahrheit, der persönlichen Entwicklung im spirituellen Sinn, ebenso ernst nimmt wie jene der objektiven Natur.

Sokrates hatte als Ziel das Nichtwissen, bestimmt als Fähigkeit spontanen Handelns; sein inneres Daimonion sagte ihm nur aus der Erfahrung, was er nicht tun sollte, bestimmte aber nie das zu tuende. Damit blieb er letztlich bei der Skepsis und Dialektik stehen. Tatsächlich aber war diese Zweiheit der Ausdruck einer viel älteren pädagogischen Einstellung, ja der ältesten überhaupt.

Der indianische Schamane, wie wir über Don Juan hören, hat zwei Helfer, den Wohltäter und den Lehrer.

  • Der Lehrer hilft ihm, das Wissen der äußeren Wirklichkeit, des Tonal, auf die nützlichen Begriffe und Strategien einzuschränken, gleichsam auf die Grammatik, mit der er seine Lebensdichtung beginnen kann.
  • Und der Wohltäter bringt ihn in die Lage, dass er zur anderen Wirklichkeit, jener des Nagual, der Visionen, Mut fasst und sich ihnen zuwendet, sich ihnen im Vision Quest anvertraut und damit den Sinn seines Lebens aus dem unendlichen Reichtum und Wohlwollen des Universums erfasst.

Lehrer und Wohltäter fühlten sich beide der Tradition des Stammes verpflichtet. Doch diese Tradition ist nur eine mögliche, und es gibt unzählige davon. Wenn nun der einzelne Mensch zu seiner Rolle als Mitarbeiter der Evolution, als Spieler erwachen soll, dann gilt es Maieutik und Anamnese zu vereinen, so dass nicht eine unendliche, sondern ein endliches Erfahren und Wissen entsteht, mittels dessen der Mensch frei kombinieren kann.

In der Philosophie ist dies die Tradition der Ars Magna, der großen Kunst, welche jene Wissensinhalte umfasst, die den Menschen nicht binden, sondern befreien. Ich habe mich mein Leben lang um die Erkenntnis der Komponenten dieser Kunst bemüht und glaube damit zum Abschluss gekommen zu sein, welcher mich jetzt befähigen könnte, Pädagogik nicht als Bindung an eine Tradition und einen Weg, sondern als Befreiung des Menschen zu seinem Wesen und seinen Sinn zu verstehen.

Die Voraussetzungen hierzu sind die früher zitierten Verwandlungen des Paradigmas, welches von der bürgerlichen Erziehung der letzten fünfhundert Jahre genau so verschieden ist wie dieses vom mittelalterlichen, wohlgeordneten Kosmos, der das letzte Mal in Dantes Divina Commedia zum Ausdruck kam. Durch die Einheit des Planeten, die Vielfalt der anthropologischen Kenntnisse ergibt sich die Möglichkeit einer Gesamtschau, die die künftigen Menschen das erste Mal in der Geschichte befähigen mag, ihren wahren lebendigen Ort im Kosmos zu erringen und zu aktualisieren.

Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn · 1982
Neue Wege der ganzheitlichen Pädagogik
© 1998- Schule des Rades
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