Schule des Rades

Arnold Keyserling

Vom Eigensinn zum Lebenssinn

4. Durchbruch zum Imaginalen

Conjurers Count

Es beginnt der Anruf, der alle Wesenheiten anspricht, aus denen unsere Struktur und Lebensform besteht und ferner alle Formen des Universums, dessen Teil wir darstellen.

0. Als Anfang ruft man die Urmutter, Wakhan, Urvater Skwan, als Chiffre die Null und das S, wie bei den Chinesen:

W a k h a n S k w a n

Nun beginnt das Zählen, ihre Anwesenheit wird gefordert, nicht demütig, sondern kraftvoll, mächtig.

1. Großvater Sonne — Ursprung allen Lebens auf der Erde, dessen ausströmende Kraft uns dauernd erhält. Dies ist die Wesenheit des Ostens, aus welcher wir Erleuchtung empfangen.

2. Großmutter Erde, Ursprung des Einblicks, der Magie und der Heilung, die Wesenheit des Westens, die, wie der I Ging sagt, immer wieder Kraft gibt, wenn wir ihr vertrauen.

3. Die heiligen Pflanzen als erstgeborene Vereinigung von Sonne und Erde. Wesentlich ist zu akzeptieren, dass Liebe der erfahrbare Ausdruck von Wakhan-Skwan ist und daher wir der Wesen gewahr werden, wenn wir sie als unsere Anverwandten begrüßen. Sie haben die Vollendung des Südens, von Vertrauen und Unschuld, die Kraft reinen Strebens, die auch uns trägt.

4. Die heiligen Tiere, als zweitgeborene Vereinigung von Sonne und Erde. Sie leben im kosmischen Stoffwechsel, Essen und Gegessen-werden, Empfangen und opferbereite Hingabe, give-away. Sie sind Träger der Weisheit, der Strategien, die Wesen des Nordens. An diesen hat das Körperhirn des Menschen teil, dessen Rückbindung zur Gattung und zur echten Erinnerung ungebrochen ist; sie sind Quell jeglicher Gesundung.

5. Die heiligen Menschen, die Wesen der Mitte, als drittgeborene Vereinigung von Sonne und Erde. Alle jene, die den give-away akzeptieren, sind sich bewusst, dass sie nicht eine Gruppe, sondern Menschen sind. In den Indianersprachen heißt Cheyenne, Crow, Navaho einfach Leute, Menschen als solche, die der Illusion der Abspaltung oder Gruppenbildung entsagt haben. Nur die sollen als Geist in dem heiligen Ort anwesend sein. Die Mitte ist gleichzeitig die Achse zwischen Himmel und Erde mit dem Menschen als Mitte, wie bei den Chinesen, deren Metaphysik übrigens der altsteinzeitlichen von allen Hochkulturen am nächsten steht. Ich habe diese Bezüge in Ars Magna ausgeführt.

6. 5 + 1: Der Mensch, der zwischen Vision und körperlicher Vereinigung lebt, Großvater Sonne und Großmutter Erde als seinen dauernden Ursprung erlebt, erfährt jetzt in Sechs den Zusammenhang mit den Ahnen, seinen eigenen körperlichen ebenso wie seine früheren Inkarnationen. Diese Ahnen sind jetzt nicht mehr von innen als Richtung nach außen zu erleben, vom Wesenskern zum vierfältigen Gott, sondern von außen nach innen; sie sind damit Zwischenrichtungen. Der Geist der Ahnen ist im Südosten; die Erleuchtung tritt von der Gegebenheit aus. Während die ersten fünf Zahlen der Süden des Ostens sind, gelten diese als der Westen des Ostens, das, worin man Einblick gewinnen muss.

7. 5 + 2: Der magische Zugang zu sich, dem Urgrund seiner Existenz, ist der Traum des Lebens. Unser wahres Subjekt ist nicht unser Ich, sondern im menschlichen Holon zwischen Tonal und Nagual der Ort, wo die Visionen und Kräfte in die Verwirklichung fließen.

8. 5 + 3: Acht ist die Zahl des Gesetzes, von der chemischen Affinitätsgrenze bis zum Kreis der Dimensionen und des Bewusstseins. Streben, Befriedigung aller Bedürfnisse im Einklang mit der Erde aus dem unschuldigen Vertrauen heraus, dass es richtig ist, schafft den Kreis des Gesetzes, sitting in the sacred way, als Weise, um selbst im gemeinschaftlichen Leben den Zusammenhang zwischen Tonal und Nagual, tatsächlichen Problemen und heilenden, aus der Gattung kommenden Visionen, zu wahren. Wir werden später auf diese Struktur zurückkommen. 8 befindet sich im Südwesten.

9. 5 + 4: Der Mensch mit der Gesamtheit der Strategien, der Weisheit zusammen, bedeutet die Fähigkeit, alle Rollen, alle Funktionen in der Welt zu überschauen, also eine höhere Bewusstheit der Instinkte bewusst-verbal zu erreichen. Die Tiere sind immer in Harmonie als einzelne, weil ihr Ich sie nicht trägt; der Mensch nur dann, wenn er gelernt hat, echte Inspirationen von bloßen Erwartungen zu trennen.

10. 5 + 5: Maß und Zahl, das Rad als Ursprung allen Verstehens, die Fähigkeit, den Mitmenschen als Anlage und mögliche Erfüllung, als Freund zu begreifen, sein Horoskop zu achten und zu verstehen. Sämtliche Philosophien und Bekenntnisse sind Kombinationen der Zehnerstruktur, die in sich — wie wir früher anhand von Pythagoras gezeigt haben — die Zwölferstruktur, die Achterstruktur und alle mathematischen Gesetze enthält.

Es besteht für mich kein Zweifel, dass Pythagoras selbst aus der schamanischen Tradition getragen wurde, aber er hat darüber hinaus in seiner Entdeckung der Mathematik des Bewusstseins gezeigt, wie man diese ins rationale Denken, als Klaviatur aller Strategien, verwenden kann. Mit Zehn sind die tonalen, innerleiblichen Zahlen beendet, und wir treten in den Nagual ein.

Geist hat als mathematische Form die Subtraktion, das Nichts als Weg zum Etwas. Daher ist die Reihe der ganzen Zahlen — zehn nach rechts positiv, tonal, zehn nach links, negativ, nagual — der Rahmen allen Einstiegs in die Transzendenz, in die echte Zukunft. Null ist die Mitte, das Gleichgewicht mit Wakhan. Das Subjekt des Tonal ist Ich, die Gestaltung der Welt; das Subjekt des Nagual ist die Einheit mit dem All, dem göttlichen Grund.

Bis zu Zehn sind wir in der Motivation, in der Entfaltung des Ichs, des unteren Teils des Holons. Mit Elf beginnen wir in den Nagual, den Sinn, einzutreten, der immer transpersonal, in der Liebe gegründet ist.

11. 10 + 1 sind alle Sonnen: Die Menschheit ist kosmisch, und ihre Intentionen kommen aus dem All. Alle Sonnen sind Großväter, geben Erleuchtungen. Unsere Sonne schafft die Grundlage des Lebens auf der Erde, ist Herr der Motivationen. Daher bezeichnen die Indianer das irdische Leben als Sonnentanz; unser geistiges Selbst ist immer Teil der Sonne. Aber sobald ein eigener Sinn, eine Intention auf der Erde aktualisiert wird, so kommt dies aus der Inspiration des Alls — aller Sonnen. 11 ist wieder im Osten.

12. 10 + 2 sind alle Erden, die menschliches Leben haben. Aus ihnen kommen unsere Motive, unsere Gestaltungskräfte, welche jenseits des Todes herrühren. Dies ist die Fähigkeit des Helfens, des Ganzmachens, wo der Heilende ein Durchgangstor für die Kräfte wird. 12 ist im Westen.

13. 10 + 3 ist der Geist aller Pflanzen, bei den Indianern White Buffalo Woman, die dem Menschen die Pfeife gebracht hat, um mit dem heiligen Rauch einen Ritus für den Empfang des Geistes, Wakhantanka, zu schaffen. Gleichzeitig ist dies die irdische Mutter — das heißt der Mensch als Mutter hat Teil an dieser Kraft, solange er durch instinktive Regungen handelt; die Mutter ist kein Mensch, sondern Teilhabe an der Unschuld-Vertrauen-Pflanzenkraft. Und wenn man in der Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter diese darauf beschränkt, wird man frei von ihrem negativen Aspekt, der sogenannten schwarzen Mutter, die das Kind wieder in sich hineinsaugen will, weil sie darin eine Pseudoexistenz erlebt.

14. 10 + 4 ist der Geist aller Tiere, die gefiederte Schlange, die die drei Welten vereint; es bedeutet, die eigenen Strategien auf das Wohl des Ganzen abzustimmen. Gleichzeitig ist es der irdische Vater, dessen Rolle die Befreiung des Kindes zur sozialen Funktion, zum Erlernen seiner Strategien ist. Wieder ist es notwendig, zu erkennen, dass man als Vater nicht Mensch ist, sondern dass dieser Zustand eine vorübergehende Teilhabe an einem göttlichen Impuls ist — so lange als Erziehung nicht rationale bürgerliche Absicht ist.

Es gibt eine südamerikanische Übung, die beiden Helfer zu finden, die in verwandelter Form auch von Silva als Teil eines anderen Systems geschildert wurde, die aber im indianischen Zusammenhang eine befreiende Rolle hat.

Das Ritual: Man stellt sich im Geist vor die Wohnungstür seines Hauses, durchschreitet die Tür, tritt in den Flur, steigt die Stiege hinauf bis vor die Wohnungstür, öffnet diese, geht hinein, öffnet das Zimmer, in dem man am liebsten ist, alles im tatsächlichen Rhythmus als ob man es praktisch tun würde. Darinnen sitzt die weibliche Helferin, da man dies vor der Übung — die ein anderer mit einem machen muss — gefordert hat.

Diese Helferin ist immer bei uns; sie war es, welche durch unsere Mutter wirkte, wenn sie positives Verhalten hatte. Man fragt sich: was kann ich von ihr verlangen, wie hilft sie mir. Man schaut sie genau an, beschreibt sie dem anderen, der die Übung mitmacht — dieser ist der Zeuge des Treffens, er ist dabei notwendig, damit die Vision nicht wieder verschwindet.

Nun fragt man sie nach ihrem Namen, unter dem man mit ihr in Beziehung treten und sie rufen kann. Den Namen, den man hört, versucht man zu verstehen, weil er, genau wie unser eigener Name, ein Zeichen dafür ist, auf welche Weise die helfende Kraft von 13 uns zugänglich ist. Diese Kraft ist nicht eine diesseitige, gesellschaftliche Sittlichkeit, sondern die Göttin ist ein lebendiges Wesen, das uns hilft, unser Grundvertrauen wieder zu finden.

Man verabschiedet sich, schließt die Zimmertür, geht aus der Wohnung, schließt diese Tür, geht die Stiege hinunter, durch den Hausflur auf die Straße.

Man dreht sich wieder um, beschreibt den gleichen Weg, öffnet die Tür zum Zimmer, und findet jetzt den männlichen Helfer. Wie schaut er aus? Worin erwarte ich, dass er mir hilft? Was kann er für mich tun? Wiederum fragt man ihn nach seinem Namen, und dann geht man zurück auf die Straße.

Nun stellt man sich einen Ort vor, an dem man gerne weilt. Man lässt die Helferin zur Linken, den Helfer zur Rechten von einem sein, und nun fragt man beide jede beliebige existentielle Frage. Silva schlägt vor, der Führer solle den Namen, das Alter und den Wohnort einer ihm bekannten Person sagen und den Adepten fragen lassen, was für ein Leiden dieser habe, und ob er den Menschen richtig beschreibe; in dem Fall hat er dann den Zugang zu seinen Helfern tatsächlich für immer gewonnen und ist gleichzeitig existentiell aus der ödipalen Situation befreit, die für die meisten Menschen in Europa in der Gegenwart zeitlebens das entfremdete Bewusstsein fixiert und ein Entkommen unmöglich macht.

15. 10 + 5 ist der Mensch im All, die gemeinsame Seele der Gattung. Dieses Wesen ist unmittelbar zugänglich. Es ist das Urbild aller Religion, das wahre Subjekt in jedem, genau so wie bei den Tieren die echte Steuerung durch die Gattung und nicht durch den einzelnen erfolgt.

Ich habe, nach einem Ritus von 12 Tagen im Jahre 1972, plötzlich eine Reihe von 15 Botschaften von einer Stimme diktiert erlebt, deren erste mit dem Satz endete Der Mensch im All ist Ich. Nicht bin ich; es ist nicht die Gottheit selbst, sondern die Gesamtheit der Gattung. Damals verstand ich die Tragweite dieser Botschaften nicht. Bei der 15. hieß es: nun kommt die Reihe zuende, und nachher konnte ich nur noch einzelne Fragen stellen. Erst durch die Indianer habe ich verstanden, dass ich tatsächlich mit jener Wesenheit in Kontakt getreten bin, welche durch die Zahl 15 angerufen werden kann.

In den Religionen bildete 15 die heilige Gemeinschaft wie die Kirche oder den Islam, und sie identifizierte sich mit einem bestimmten Weg. Tatsächlich sind aber diese Wege oberhalb der 15; es sind jene letzten fünf Zahlen, welche den Menschen mit den höchsten Geistern des Weltalls verbinden können.

16. 15 + 1 sind die Avatars, alle jene Wesen, die den Zugang zum All errungen haben und entweder eine Brücke oder ein Boot zum Überqueren des Lebensflusses schufen — oder die in den alten Traditionen den Lebensbaum, die Weltenesche hinaufgeklettert sind, wieder herunterkamen und fortan dem Fragenden zuhilfe stehen. Es gibt viele Avatars, zu ihnen gehören Christus, Mohammed, Buddha ebenso wie Ramakrishna, Ramana Maharshi, Meister Eckhart, ja wahrscheinlich auch alle jene wie Goethe oder Einstein, deren Vision die Menschheit fortan geprägt hat. Ihr Ort im heiligen Kreis ist, wie die 6, der Südosten.

17. 15 + 2: Die Fähigkeit Wünsche zu verwirklichen, entstammt den Naturgeistern, bei den Hopis den Kachinas. Alle sind Märchenwesen wie Gnomen, Trolle, Sylphiden, Undinen, Salamander, Feen, die sich nach irischer Überlieferung heute den Menschen nicht mehr zeigen, weil diese zu wenig lachen; nur solchen, die den Einblick haben, werden sie zugänglich, sie sind die averbalen Visionen. Im Südwesten.

18. 15 + 3: Das Erfüllen aller echten Bedürfnisse im Gesamtrahmen des Kosmos wird durch die Karmameister bestimmt, welche nicht den Menschen richten, sondern die augenblickliche Ordnung aufrechterhalten und erfüllen. Man muss sie anrufen, wenn man etwa sich entscheidet, eine Krankheit aufzugeben. Sie sind jene, denen der Mensch begegnet, wenn er bereut, seine Wahrheit wieder findet, einsteht für sich in aller Offenheit, den Ausgangspunkt der Verantwortung wieder erreicht. Bei einer Heilung durch Schamanen werden diese Karmameister als letzte angerufen, um verständigt zu werden, dass jener Mensch wieder als Gesunder wirken will, und dass sich dadurch die Gesamtsituation seiner Gruppe verändert. In der christlichen Ikonographie entsprechen diesem Impuls die Erzengel, die das reine Streben und die Unschuld immer wieder herstellen können, ja den Weg des Paradieses eröffnen, den die Cherubim seit der Vertreibung mit dem flammenden Schwert verstellen.

  • Im Wassermann, Südosten, der lehrende Uriel, hebräisch Licht Gottes;
  • Südwesten, im Adler-Skorpion Michael, die Forderung Wer ist Gott, oder Wer ist wie Gott.
  • Im Löwen Raphael, Gott heilt, Nordwesten.
  • Und im Nordosten Stier Gabriel, das Wort Gottes, das den Propheten Mohammed inspirierte, das ewige Wort, aus dem alle verbal-kulturelle Inspiration herrührt.

Die gleiche Ordnung wurde auch in den Evangelien mit Matthäus, Johannes, Markus und Lukas gewählt.

19. 15 + 4 sind die Impulse der Weisheit, der Inspiration verbalen und mathematischer Art, aus denen die menschliche Kultur, sein Milieu als Noosphäre, als Gehirn der Erde getragen wird. Der Impuls ist im Nordosten, bedeutet höhere Strategie, geistigen Zugang zum morphogenetischen Feld. Alle wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen entstammen unmittelbar der 19 Inspiration. Der Mensch kann nichts erfinden, sondern nur entdecken, annehmen; je weniger er rational hinzufügt, desto einfacher und schöner wird die Gestaltung.

20. 10 + 10 der letzte Impuls, ist Wakhantanka selbst, die Vereinigung der Gegensätze, der Tod, der große Geist. Nur wer den Tod, das Erreichen des Gleichgewichts, immer als Freund mit sich führt, kann alle Probleme erledigen und in die kreative Spontaneität gelangen. Dies ist nun die letzte Anrufung in der Sweatlodge, damit ist die Zeremonie beendet.

Viele Menschen erleben nun, dass während der Anrufung, des Invocation Counts, die Wesenheiten sichtbar unter uns weilen. Ich habe aber nur die große Kraft im Raum gespürt, keine Visionen gehabt, und bin bei diesen auch leicht misstrauisch, ob der Betreffende nicht Wunschvorstellungen amplifiziert aus dem Ich und damit in eine seelische Inflation gerät. Aber die Öffnung ist so wirksam, dass dieses Übel bald überwunden werden kann, vor allem, wenn man zum Invocation Count auch den zweiten Aspekt, den Conjurers Count, hinzunimmt, der die Grundlage des magischen Eingreifens in die Welt darstellt.

Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn · 1982
Neue Wege der ganzheitlichen Pädagogik
© 1998- Schule des Rades
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