Schule des Rades
Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn
4. Durchbruch zum Imaginalen
Conjurers Count · 9/11
Jeder Mensch strebt nach einer bestimmten Stellung in der Welt nach Wissen und Kompetenz. Diese Rolle ist eine von vielen und beruht auf dem Empfinden, also dem tatsächlichen Eingriff in die Wirklichkeit, nicht auf Phantasiegebilden wie der Standesehre usw. Man muss in dieser Arbeit immer vom Gegebenen ausgehen und sehen, wo die Nahtstelle zum Ungegebenen, zur Vision zu erreichen ist. Zwar ist dies der Intention nach das Ziel aller Wissenschaften, wie auch ein Doktorat ursprünglich bedeuten sollte, einen kreativen Beitrag zu leisten. Heute ist wohl kaum mehr die Rede davon, weil nicht mehr die Entwicklung des einzelnen, sondern nur noch der fiktive Gesamtzusammenhang der Wissenschaft als einer dämonisierten Gottheit im Vordergrund steht — im Namen der Wirtschaft, der Politik, des Staates, der Kultur, der Notablen. Alle Tätigkeiten sind Spiele, sind Rollen. Werden sie als solche entlarvt — und ist man bereit, immer wieder die Grundfragen zu stellen, etwa wozu die Architektur gut sein soll — dann entrinnt man den falschen Geistern durch Eingehen auf den höheren Merkur, die Schlauheit, die den Witz und die Originalität höher wertet als das Anerkannte.
Einen Einstieg in diese Vereinigung finden wir in der germanischen schamanischen Tradition, dem Runenzauber. Urbild der Runen ist die siebte des germanischen Alphabets, des Futhork, die Hagalrune. Sie besteht aus folgenden Elementen:
HAGAL
IS
NOT
EH
MAN
YRR
Hagal, das Chi der Schöpfung, das Holon, ist der Atem, der in heiligem All schwingt. Um mit diesem in Einklang zu sein, muss die Is-Rune, das Ich, die senkrechte Achse zwischen Himmel und Erde wahren. Die Not-Rune ist die Schöpfungsdiagonale, die sich in jedem mittelalterlichen Bild wie noch bei Dürer zwischen links oben und rechts unten befindet; sie bestimmt das Denken. Sie entspricht dem Invocation Count; nichts soll man unternehmen, was nicht der Notwendigkeit entspringt. Die Eh-Rune, das Sippengesetz, der Conjurers Count, ist die Richtung für den Einklang zwischen der Erde und dem Himmel. Die Man-Rune zeigt, dass der Mann aus dem Himmel schöpft, aus seiner Inspiration, und mit dieser die Welt befruchtet, wie das Symbol des Wassermanns. Die Yrr-Rune, jene der Frau, bedeutet, immer aus dem Nichtgewussten anzusetzen, was Verführung zu sein scheint — Irrtum — sich aber nachher als richtig erweist. Mann und Frau sind in der Zwillingskreuzigung
, sie wirken zusammen.
Das Ritual, um zur verbalen Weisheitsinspiration vorzudringen, welches ich viele Jahre durchgeübt habe, heißt im Bewusstsein als erstes: durch die Denkassoziationen und durch die unterbewussten Emotionen durchzustoßen, um zum Unbewussten zu kommen. Die Arbeit ist ähnlich wie beim freudschen Assoziationsexperiment. Während aber dort die Länge der Reaktion zeigt, ob ein Trauma mit dem Wort verbunden ist, kümmert man sich hier nicht um das Trauma, sondern um die Struktur.
Wenn auf das Wort Pflanze
die Antwort Blüte
oder Stamm
kommt, dann ist es Denken. Wenn das Wort Mutter
oder Sorge
erscheint, dann ist es das Fühlen.
Wenn aber das Wort Richtung
kommt, oder Leben
, dann heißt dies, man gelangt in die Sphäre der Zukunft, der Inspiration, und damit der natürlichen Zahlen.
Dies ist traditionell das Reich der Numerologie: Die Antwort liegt in der Anzahl der Worte, die aufscheinen. Erhalte ich vier Worte, so muss ich sie im Quadrat anordnen, den Himmelsrichtungen entsprechend. Fünf folgen der Gestalt des natürlichen Menschen, Kopf, Arme und Beine. Welches Wort setze ich in den Kopf, welches in die rechte und linke Hand, den rechten und linken Fuß?
Durch diese Wortarbeit ist es möglich, jeden Menschen zu seiner verbalen Inspiration zu bringen, zum Beispiel den Schreibblock eines Schriftstellers zu überwinden und die Traditionen zu transzendieren.
Nation, Zivilisation, Kunst — all diese sogenannten Kulturmächte sind kein Wert, sondern Material. Jeder glaubt, seine Tradition wäre besonders wertvoll; aber tatsächlich sind alle nur Material für Selbstaktualisierung. Das, was auf der Welt an Inspirationen verwirklicht wurde, ist ein geringer Teil des Möglichen — sobald man das Pleroma, die Fülle des Möglichen, einbezieht, wird die eigene Dichtung gefahrlos.