Schule des Rades

Arnold Keyserling

Vom Eigensinn zum Lebenssinn

1. Entfaltung der Sinnlichkeit

Zeit

Die schwarze Erziehung fand ihre Rechtfertigung in der Definition des Menschen, derzufolge dieser zwischen soziokultureller geistiger Tradition, wie etwa dem Christentum, und den tierischen Instinkten lebe. Diese Tradition bestand aus Gesetzen, von Gott dekretiert; der Begriff des Naturgesetzes ist eine Profanierung der göttlichen Gebote. Der Wille des Menschen sei entweder Gut oder Böse; nur als guter Wille ist er im Einklang mit den Gesetzen, jenen der Bekenntnisse oder des dialektischen Materialismus. Nur durch Lernen, durch Abrichtung kann der Mensch den guten Willen erreichen, dessen Voraussetzung die Tötung des Eigensinns, der triebhaft tierischen Grundlage bedeutet. Das wahre Ich — der getaufte Christ oder der diplomierte Bürger mit abgeschlossener Schulbildung — hat sein Wesen in einer klar bestimmten gesellschaftlichen Funktion, oder als Glied einer Partei oder Klasse. Gesetze sind ihm objektive Wirkweisen wie Newtons absoluter Raum und Zeit; wer dagegen verstößt, macht sich unmöglich. Einzelne müssen als Ergebnis der Gesetze verstanden werden, so wie etwa die Mutationen der Erdgeschichte von Charles Darwin durch natürliche Selektion der Tüchtigsten im Kampf ums Dasein betrachtet wurden, was die Grundlage des Sozialdarwinismus, Liberalismus und Kapitalismus im 19. Jahrhundert bildete.

Diese Voraussetzungen sind metaphysisch falsch. Gesetze liegen nicht der Wirklichkeit zugrunde, sondern diese besteht leibnizisch aus der Wechselwirkung von Monade; es sind Beziehungen im Rahmen bestimmter Möglichkeiten, Kombinationen von Urelementen mit einem jeweiligen Subjekt mit Aktions- und Reaktionsfähigkeit, vom Atom über die Zelle, über Pflanzen, Tiere, bis zum Menschen. Werden Beziehungen aus Ursachen verstanden, wird das Bewusstsein entfremdet.

Der Mensch als Funktionär der Gesellschaft, als Glied einer Gruppe wird durch diese Kollektivierung aus dem Zusammenhang der Natur herausgerissen; seine wahre Individualität ist nicht in seiner geistigen Rolle in einem System, sondern in seiner triebhaften Entelechie, die seiner Einzigkeit, seinem Willen zugrunde liegt. Dieser Wille ist aber nicht individualistisch im bürgerlichen Sinn, sondern dem All eingebunden, und lässt sich am besten wie jegliche Monade begreifen als Holon, wie es Koestler formuliert hat, im Symbol des griechischen Buchstaben Chi: für sich ist jede Monade selbständig in ihrer Wirkung, also Ich; nach oben zu ist sie immer Teil eines größeren Ganzen, sowie die Zellen des Körpers der Steuerung des Genoms unterliegen, der Körper aber durch die Instinkte wieder Teil der Gattung ist, und dieser Teil wahrscheinlich eines größeren kosmischen Zusammenhangs, den wir nur vermuten können und als dessen Chiffre die Gottheit oder der große Geist steht.

Holon
H o l o n

Wie entfalten sich nun die Holons, als Träger der Information?

Aus der kosmischen Energie entstehen im Urknall, in der Schöpfung, die Wesen, die dauernd aus der Urkraft getragen und ernährt werden. Diese aufbauende Energie bezeichnet man als Negentropie, Energie, die zur Masse und damit zur beharrenden Information wird. Diese Information wird zu einem Wesen, einem Atom, einer Zelle oder einem Organismus, welcher auf seiner Ebene frei ist;

  • ein Atom kann Energiequanten aufnehmen, wenn sie mit seiner Struktur in Resonanz stehen, oder auch nicht.
  • Ein Einzeller kann sich sowohl an die Umgebung anpassen als auch sie artgemäß verändern.
  • Eine Pflanze kann aus der Sonnenenergie Kohlenwasserstoffe aufbauen, damit wachsen, und stellt für die Tiere den Luftsauerstoff zur Verfügung;
  • ein Tier bewegt sich gemäß seinen Motivationen im Rahmen seines Ökosystems, trägt zum kosmischen Stoffwechsel des Essens- und Gegessenwerdens bei.
  • Der Mensch nimmt geistig Energien als Vorstellungen negentropisch auf und baut damit seinen Lebenssinn und seine Zivilisation.

In allen Fällen ist die Entropie jene Energie, die er nicht als zerstörend abgibt, wie das 19. Jahrhundert glaubte, sondern alle Wesen verwenden die Energie zur Hilfe für andere Wesen. Nichts geht zugrunde, wie Prigogine bewiesen hat. Wenn ein Zusammenhang zerstört wird, dann werden Organismen die entropischen Bruchstücke zu einem höheren Gleichgewicht, zu einer höheren Verwirklichung verwenden. So ist alles Leben im Zusammenhang, und Bewusstsein als selbständiges Agieren und Reagieren kennzeichnet die Welt von der untersten Evolutionsstufe an.

t r o p i e

Auch Kristalle wachsen, sind negentropisch, und Gesetze als verifizierbare Beziehungen ergeben sich aus dem Zusammenwirken der Wesen mit dem All. Somit ist auf jeder Stufe das Einzelwesen der Träger der Aktualisierung, fähig zur Entscheidung, und hat gleichzeitig, holistisch, den Wesenszusammenhang mit allem.

Die Chinesen bezeichneten die

  • Negentropie als Yang, als Energie, die Masse wird,
  • und die Entropie als Yin, als Masse, die Energie abgibt.

Für den Menschen wäre Yang die Gerechtigkeit, dass jedes Wesen seinen Eigensinn erreicht und die anderen Wesen es darinnen fördern können, und Yin bedeutete die Liebe als der erfahrbare Aspekt des großen Zusammenhangs. Der Mensch ist aber weder Yang noch Yin als Wesen, sondern dieses ist der dauernde Wandel vom Nichts zu Etwas, von der Leere zur Fülle.

  • Jedes Wesen hat eine eigene Information oder Struktur, die man als Te bezeichnet,
  • und wurzelt im großen Zusammenhang des Sinnes, Tao.

Nur als Te kann Tao erlebt werden, kann der Sinn gefunden werden. Daher ist die erste Voraussetzung der abendländischen Pädagogik als naturwissenschaftlich falsch entlarvt: Der Sinn kann nicht aus einem Gesetz und einer geprägten Offenbarung, sondern nur aus der augenblicklichen Situation des Menschen, seinem Karma oder seiner Triebentelechie, also seinem Eigensinn, verstanden werden.

Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn · 1982
Neue Wege der ganzheitlichen Pädagogik
© 1998- Schule des Rades
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