Schule des Rades
Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn
5. Befreiung des Wesens
Kairos
Ziel der schwarzen Pädagogik ist eine Bildung nach vorgegebenem Ziel: Die Menschen sollen einer notwendig aus der Vergangenheit stammenden Vorstellung angepasst werden.
Ziel echter Pädagogik ist die Entfaltung des Wesens. Die vier Methoden, die wir besprochen haben, können uns dazu verhelfen, die falschen Bilder unschädlich zu machen. Pädagogik kann positiv sein, ja sie kann die höchste Methodik des Menschen werden, wenn sie dazu dient, das Wesen zu befreien.
Jeder Mensch wird als Wesen in diese Welt geboren und muss drei Stadien durchlaufen, bis er imstande ist, dem großen Geist zu antworten und selbst kreativ zu werden.
Das Kind, das auf die Welt kommt, ist keine tabula rasa, sondern ein bereits geprägtes Wesen, welches mit Erwartungen den Eltern antwortet. So ist das erste Gebot, den Eigensinn nicht zu verurteilen, wie dies die Ideologien tun, sondern ihn herauszuschälen und zu fördern.
Die Pädagogik sollte die drei Gehirnsysteme nacheinander zur Entfaltung bringen — das körperliche Reptilhirn mit allen Bewegungsabläufen und der Fähigkeit zum Spielen. Das seelische limbische affektive System, mit den beiden Parametern der Wiederholung der Lust und dem Vermeiden des Schmerzes, und das geistige kortikale System der beiden Hemisphären, mit seiner vierfältigen Gliederung, derzufolge wir die Methodik der Entideologisierung dargestellt haben.
Das Kleinkind erlernt spielerisch die Sprache, bedarf keines Zwanges, da bei verständigen Eltern die Triebe anerkannt sind und sich um ihre Schwerpunkte herum das Sprachspiel bildet. Dieses ist eng mit der Bewegung, mit den Gebärden verknüpft, und wenn die Bewegungsfreiheit unterstützt wird, anstatt dass man das Kind zu einem bestimmten Habitus des Benehmens anhält, entwickelt sich eine große kreative Freiheit, die solange anhält, wie alle Bedürfnisse fraglos von der Mutter befriedigt werden und die Trennung des Organismus nicht zu Bewusstsein kommt.
In den meisten asiatischen und afrikanischen Kulturen unterliegt das Kind keinerlei Kritik bis zum siebten Lebensjahr, dann aber setzt diese schlagartig ein. Das System von Lohn und Strafe, der Kompetition, des Erlernens der Wirklichkeit und ihrer Strategien, tritt in den Vordergrund. Der Schwerpunkt wechselt vom rechten imaginativen zum linken verbal-analytischen Gehirn, der Vater löst die Mutter ab.
In der abendländisch-westlichen Welt ist dieser Übergang meistens eine Katastrophe. Da alle Wünsche nur erfüllt werden, wenn man den Forderungen der Eltern entspricht, geht das Vertrauen in die Triebhaftigkeit verloren, der corpus callosum wird zur Trennmauer; man sucht nach der verlorenen Hälfte im Gegengeschlecht, glaubt die eigene Hälfte als animus oder anima in der Verliebtheit zu entdecken und geht enttäuscht von Partner zu Partner, bis man resigniert.
Die Wirklichkeit wird bedrohlich empfunden, und die meisten Lehrer und Erzieher genau wie die Menschen der Geschäftswelt bauen sich ein Gehäuse der Angst auf, in dem der Mensch nicht mehr als Wesen, sondern nur noch als Nummer funktioniert. Man denke nur an die Annoncen in der Presse wie Halbtagskraft gesucht
— als ob der Mensch ein Steckkontakt wäre. Es gilt als erwachsen, sachliche Gesichtspunkte höher zu werten als persönliche. Die bestehende Gesellschaft wird geheiligt, Orthodoxie allein führt zum Erfolg. Als Kind macht der Mensch, was die Eltern wollen, um zu überleben. Der Erwachsene muss das arbeiten, was andere verlangen, um Erfolg zu haben und die eigene Familie zu gründen, die die Unterdrückung um eine Generation weitertragen wird.
Der Vierzigjährige sehnt sich nach sozialer Anerkennung, Ehrenämtern, Stellungen, die wiederum nur bei Orthodoxie möglich sind, wenn jede Abweichung geahndet wird, und schließlich, als Pensionist im Alter, sucht man nach einer Metaphysik, die einem recht gibt, und in einem jüngsten Gericht die Andersdenkenden zur ewigen Pein verdammt, damit man sich nicht geirrt habe.
Dieses sogenannte Motivationskreuz ist nicht unausweichlich, obwohl es dank des Erfolges der westlichen Lebensart überall in den Vordergrund treten kann. Erstens einmal ist es nicht notwendig, das Grundvertrauen zu verlieren; man kann es, wenn man es verloren hat, durch die heutigen psychologischen Methoden der Primärtherapie, der Trance im Sinn Donnars, aber auch der bloßen Bemühung um den Körper wie bei der Alexander-Technik und der Feldenkrais-Methode, wiedergewinnen. Das Wissen, das das Kind spielerisch erwirbt, bedarf ebensowenig einer Anstrengung und eines Diploms, wie der Baum keine Auszeichnung dafür erfährt, dass er einen neuen Ast wachsen lässt.
Dieses spielerische, aus der natürlichen Neugier gespeiste Lernen kann in jedem Augenblick wieder erweckt werden, und es zeigt sich, dass der Übergang zum zweiten väterlichen Stadium, der Bewährung in der Wirklichkeit, nicht negativ sein muss. Ganz im Gegenteil: alle Spiele der Kinder weisen auf die spätere Wirklichkeit, ob es jetzt Ehe, Lokomotivführer, Astronaut oder was immer ist.
Die zweite Sphäre von Wissenschaft und Gesellschaft muss enttabuisiert werden. Es besteht weder ein Wert in der österreichischen Lebensart noch im Ethos der Politiker. Alles sind Strategien jenes Schalkes, der jeder in seinem Innersten ist. Wenn der Lehrer klar erklären kann, dass jeder Schüler bis zum Denkansatz den Zusammenhang versteht und keine falschen Machtstrukturen aufbaut wie die heutigen Professoren, die sich einbilden, durch Leistung
auf ihren Platz gekommen zu sein, dann behält der Student sein Selbstvertrauen, und die Demütigung wird vermieden.
Eine durchgehende psychologische Ausbildung der Lehrer, um ihre eigene Demütigung zu vergessen, ist die Voraussetzung für eine Wandlung der Lage. Ein amerikanischer Erziehungsforscher erklärte, es wäre besser, einen Lehrer, der wirklich seinen Stoff versteht, über Television Tausende von Schülern lehren zu lassen als schlechte Lehrer, die keine Liebe haben, weiter zu beschäftigen. Ferner ist es unmenschlich, für diese zweite limbische Erziehung mehr Zeit aufzuwenden als zur Meisterung des local cultural consensus
notwendig ist — fünf Stunden fünf Tage in der Woche, fünf Jahre lang, genügen für jede heutige Gesellschaftsstruktur, wie amerikanische Forscher nachgewiesen haben. Der geistige Größenwahn der Traditionalisten lässt sich unschwer als Verbrämung des entlarven: Warum soll der andere es besser haben als ich es gehabt habe?
Sehr einfach: Er muss es besser haben, weil die heutige Zivilisation in Ost und West untermenschlich ist, nicht tierisch — es werden tatsächlich Untiere erzeugt, wie sich in allen Kriegen der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, wenn das prekäre soziale Gleichgewicht von außen gestört wurde. Die Grausamkeit der modernen Kriegsführung gehört nicht zu den Warm- oder Kaltblütern, nur bei den Insekten finden sich ähnliche Formen, doch diese haben wenigstens keine Schmerzwahrnehmung! Lernen in der Schule dient der Strategie des Lebens, ist Erkundung der jeweiligen Grammatik eines Berufs. Die dritte Stufe ist die eigentliche Kultur, in welcher Menschen, die die Gesellschaft gemeistert haben, an der geistigen Bewegung echten Lernens mitarbeiten. Diese neokortikale Ebene ist die eigentlich menschliche Existenz. Ideologie mit Gut und Böse ist limbisch; erst der imaginative Mensch hat Zukunft.
Bion sagt, die Gesellschaft braucht die Kultur, um ihre Orthodoxie zu erneuern, aber die ist — außer in Wahljahren aus offensichtlichen Gründen — gegen die Neuerer misstrauisch und feindlich eingestellt.
Nur in Zeiten mangelnder Hierarchie, der kollektiven Unordnung können sich die Pioniere behaupten — was eben das Großartige an unserer Zeit ist, dass wirklich kaum einer mehr sich auskennt und daher die diktatorischen Bemühungen auf Misstrauen stoßen.
Die Gefahr der dritten Stufe sind die Meister, die Gurus, die Notablen, die ihren Stil für allgemein verpflichtend halten wollen und das Neue in eine Schule verwandeln, dann Vater- oder Mutterrollen spielen. Der wirkliche Gott, wie die Indianer wissen, ist weder Vater noch Mutter, diese sind letztlich unsere tierischen und pflanzlichen Helfer. Es sind Urvater und Urmutter, und ihnen gegenüber gibt es keine Abhängigkeit, sondern jeder ist Bruder und Schwester.
Von den Meistern muss man genauso verlangen, dass sie das ihnen Wesentliche in klarer Form verständlich machen können, dass es keine averbale Abhängigkeit verursacht, wie von den Mittelschullehrern und den Leitern der Kindergärten. Die meisten Lehrgebäude pflanzen sich auf dem Wege des Lehrstuhls fort, ein höchst gefährlicher und oft tödlicher Stuhlgang. Was wesentlich ist, gehört dem einen Wissen zu. Ein Förster, der seine Bäume wirklich versteht, ist dem Universitätsprofessor, der in seinem Stoff gefangen ist, überlegen.
Hier ist der Ort der echten geistigen Demokratie: nämlich zu verlangen, dass Menschen klar darstellen, neues Wissen nicht als Monopol zur Macht zurückhalten, auch keinen Staat in seinem Monopolbestreben unterstützen — hier hat die amerikanische Pugwash-Bewegung vorbildlich gewirkt — sondern als echte Dichtung zu anderen gesellen.
Dichten kann man nur aufgrund gemeinsamer Sprache; was wir hier dargestellt haben, ist die Sprache, die auf die Ebene des Bewusstseins des Menschen erhoben wurde. Aber darüber tritt noch ein weiteres Ziel: dass die dauernde Entfaltung jedes einzelnen Menschen, die Befreiung jedes Wesens das Hauptziel allen Handelns ist, dem alles andere untergeordnet zu werden hat, nationale genau so wie geistige oder religiöse Interessen.
Julian Huxley erklärte einmal, er wisse, was das berühmte missing link
, die Brücke zwischen Affen und Menschen, nach dem Charles Darwin vergeblich suchte, ist: Das sind wir selbst. Und er setzte launig hinzu, wenn er seine Universitätskollegen betrachte, so sei ihm die Wahrheit des darwinschen Satzes offensichtlich. Aber nichts kann uns daran hindern, ab heute, ja ab gestern, ein wirklich menschen- und erdgemäßes Leben zu beginnen und damit das Reich der Freude über jenes der Trauer und der Entfremdung zu vergrößern.
Dieses Reich der Freude ist das, was alle Religionen, aber auch alle Utopien seit Anbeginn der Geschichte als Normziel gemeint haben. Wir sind heute fähig, vor allem in Mitteleuropa, in Österreich und in der Schweiz, da wir an der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West, Nord und Süd nicht beteiligt sind, in dieser Richtung einen großen Schritt zu tun. Dies ist ein Kairos; ein trächtiger Zeitmoment, eine entscheidende Möglichkeit; und an uns liegt es, zu sorgen, dass er nicht vertan wird, wie es bisher so oft geschah.