Schule des Rades

Arnold Keyserling

Vom Eigensinn zum Lebenssinn

1. Entfaltung der Sinnlichkeit

Harmonie

Das Wesen des Bewusstseins ist, dass es beliebig viele Rhythmen integrieren kann. Hier sind uns Afrikaner und Inder weit überlegen. Jean Houston hat gezeigt, dass diese Rhythmen nicht nur körperlich eine Erweiterung des Tätigkeitsfeldes sind, sondern auch geistige, emotionelle und seelische Inhalte sich ihnen eingliedern können; dass also ein Kennen der Rhythmen zur kreativen Eingliederung der verschiedensten Lebensprozesse führt.

In der Bewegungstherapie kann man Krankheiten unter anderem auch daran erkennen, wenn die Körperrhythmen nicht in Harmonie sind. Ein Beispiel für Harmonie wäre etwa ein Herzschlag von 72 p.M. im Verhältnis zur Atmung von 18 p.M. Alle Körperorgane sind sowohl durch eine Masse, die chemisch zu beeinflussen ist, als auch durch Rhythmen in labiles Gleichgewicht zu versetzen. So kommen wir hiermit zur ersten phänomenologischen These: Um den Sinn in der Zeit zu erleben, anstatt sklavisch Vorbildern der Gesellschaft zu folgen, gilt es Töne, Intervalle und Rhythmen in ihrem Verhältnis zum Bewusstsein zu erleben. Der Durchschnittsmensch gleicht heute einem Mann, der nur den Radetzkymarsch kennt und immer wiederholt — wie einer, der die gleiche Zeit im Büro und im Heim verbringt und alles diesem Rhythmus unterordnet.

Die Kunsterziehung ist hierin der echten Pädagogik näher als alle ethischen Zwangsjacken. Der begabte Musiker muss zuerst einmal die Gesamtheit der Regeln kennenlernen, nach denen sich Harmonien und Rhythmen vollziehen, und dann erst zu eigenen Kompositionen schreiten, sonst bleibt seine Begabung ein Zufall, wie die Frucht einer Pflanze; diese wird nicht bewusst, wenn sie nicht aus dem Geist wiedergeboren wird. Und der Geist bedeutet eben die Erkenntnis des gesamten, gleichsam grammatikalischen Zusammenhangs, auf dessen Hintergrund dann der einzelne seine Dichtung beginnt.

In kollektiven Zeiten erreichte ein Mensch die Gesundung, wenn er sein Schicksal im Rahmen der herrschenden Ideologie verstehen oder interpretieren konnte. So berichtet Eliade, die Opfer Dschingis Khans seien willig und ohne Gegenwehr in den Tod gegangen, weil sie diesen mit GOG und MAGOG der Bibel identifizierten und daher freudig auf das notwendig für nachher vorausgesagte Tausendjährige Reich des Friedens und der Fülle harrten!

Im persönlichen Leben hat erst die Psychoanalyse und Primärtherapie die Rückbindung zu Träumen, zur eigenen Geschichte begonnen; sie führt bei jedem Menschen, der sie versteht, zu einer Befreiung. Daher ist das bewusste Erlernen der Vielfalt der Rhythmen (körperlich), der Harmonien, die mögliche Intervallvielfalt (seelisch) und die auf Tonschriften beruhende Melodie eine Lösung aus dem ideologischen Joch. Zur Einübung in das Geistige, die freie Folge der Intervalle, hat Josef Matthias Hauer sein Zwölftonspiel geschaffen. Und in allen Kulturen finden wir Methoden, um der Zeit gerecht zu werden, so dass man Traditionen nicht nur negativ zu bewerten braucht, sondern sie gleichsam als Schule erkennen kann.

Diese Auffassung der Musik war im Abendland bis ins 15. Jahrhundert gültig:

  • die musica humana spiegelte den Rhythmus der Triebabläufe,
  • die musica mundana die Intervalle der Sphärenharmonie als Urbild des ganzen Lebens,
  • und die musica instrumentalis, in der der Mensch einem Instrument gleicht, schafft nach den Worten von Ficino die Grundlage der menschlichen Zivilisation.

Von Augenblick zu Augenblick gilt es in der Musikpädagogik immer andere Formen zu entfalten, damit sie nicht mechanisches Gedächtnis werden. Hierzu kommt noch als weiteres, dank der neusten Entwicklung, die Erkenntnis der Bedeutung anderer Schallträger, wie in der elektroakustischen Musik, die nun alle Materieschwingungen erfahrbar macht.

Von Chladni wissen wir, dass Tonwellen unter einer Glasplatte mit Sand geometrische Figuren in Konsonanz mit den Tönen und Intervallen schaffen. So ist die entscheidende Bedeutung der Musik die Schaffung von Gegenständen, die in Harmonie mit dem Menschen sind. Wenn ein Mensch sein Zimmer aufräumt oder ein Bauwerk schafft, dann wird er sich nur dann wohlfühlen, wenn die Abstände zwischen den Gegenständen akusmatisch sind. Mittels des Monochords, eines Instruments gleichgestimmter Saiten, können die Gegenstände abgegriffen werden, und man kann erkennen, ob eine Proportion für das Ohr erfreulich ist oder, wenn dissonant, der Ergänzung durch andere bedarf.

Ein Mensch ohne echte Dauer aus dem Augenblick ist in der Hölle der Gegenwart, der ewigen Wiederholung, die aus falschem Denken kommt. Durch Lernen der Rhythmen und Harmonien in ihrer Fülle wird daher das Zeiterleben gelöst und die Fähigkeit angegangen, seine eigene Geschichte zu beginnen — ein Grund, warum totalitäre Zeiten und Institutionen wie die Kirche die Musik genau reglementierten. Der menschliche Organismus ist holographisch, die Zellen wie das Gehirn können unzählige Rhythmen aufnehmen und speichern. Wenn Musik im Sinn der Wiener Klassik als Ästhetik gelehrt wird, dann schneidet sich der Mensch durch Kultur den Zugang zur Kreativität ab. Aber das Ohr ist nur einer der Sinne, mit denen die Wirklichkeit zu gestalten ist; wenden wir uns nun den anderen zu.

Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn · 1982
Neue Wege der ganzheitlichen Pädagogik
© 1998- Schule des Rades
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