Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das Erdheiligtum

4. Feste der Sonne

Bedeutung der Feste

Erst in der Wassermannzeit, da das historische Rad um ein Achtel zum Tierkreis geneigt ist und damit zugänglich wird, können die Feste der Sonne in ihrer Reinheit verstanden werden. Fast jede bekenntnishafte Religion hat sie irgendwie eingefügt, wesentliche Taten oder Gedanken ihres Stifters in die Sonnenbedeutung gekleidet. Diese Bedeutung ist aber nicht Grundlage des Verstehens, sondern ein Teil des tieferen Sinns der Sonne als Bewusstseinsträger. Im Tierkreis ist jeder von uns durch seinen Typus, dem Sonnenzeichen, Mitarbeiter der Gattung, ob er will oder nicht; durch seine Triebe und Sinne bleibt er dem Naturgeschehen eingegliedert.

Aber nicht jeder stößt zur Sonne durch, manchmal bedarf es vieler Existenzen, bis alle Komponenten des Bewusstseins, symbolisiert in den Planeten, integriert worden sind. Wenn die Feste nun im Augenblick des tatsächlichen Sonnenstandes gefeiert werden, so ist die Sonne auf die Erde bezogen. Damit wirken Instinkt und Strategie nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander zur großen Harmonie, wie dies Lao Tse beschreibt. Wir wollen die Bedeutung der Feste erst rationalistisch aus dem Rad bestimmen und nachher die Stimme des Menschen im All dazu vernehmen.

Das Fest des Geistes im Südosten auf 15° Wassermann haben wir zu Beginn der Wassermannzeit am 5. Februar 1962 um vier Uhr früh in Kalkutta das erste Mal gefeiert. Schon immer hatte die chinesische Überlieferung hier den Frühlingsanfang gefeiert, der trotz ihres Mondjahres auch 1962 der Beginn eines Tigerjahres war.

Jedes Jahr kommt nun ein anderer Impuls zum Tragen; dass dies nicht nur für mich persönlich, sondern auch menschheitlich so ist, wurde uns klar, als 1966 minutengenau zu Beginn des Mondjahres die erste Mondsonde landete. Seither haben wir dieses Fest im Kriterion jedes Jahr begangen, aber erst 1982 wurde mir die Bedeutung klar: sie meint die gemeinschaftliche Teilnahme am Menschen im All, am Geist der Kultur. In der Wassermannzeit ist der Schwerpunkt die historische Erwartung des Weltenjahres, wobei in jedem Jahr eine neue Aufgabe der Vergeistigung und möglicher Verwirklichung hinzutritt.

Durch den Astralmythos wird der Arbeitsrahmen der Wassermannzeit einsichtig. Weltgeschichte ist kein Schicksal, sondern das Ergreifen von Möglichkeiten, die von immer anderen verwirklicht werden — jene, die zufällig zu ihr durchstoßen. Daher kann man auch die bisherige Geschichte, wie Theodor Lessing sich ausdrückte, als eine Serie verpasster Gelegenheiten bezeichnen. Auf Zeiten der Fülle folgten solche des Niedergangs, weil ihre Träger wieder auf die Ebene des ideologisch-banalen Lebens zurückfielen. Aber die Zyklenlehre von Oswald Spengler ist falsch. Der Niedergang ist nicht schicksalhaft, sondern die Kulturimpulse setzen sich an einem anderen Orte fort, so wie nach dem Ende von Byzanz dessen Gelehrte nach Florenz kamen und die Blüte der Renaissance einleiteten.

Heute nun können diese Zufälle des Niedergangs für alle jene vermieden werden, die den patriarchalischen und matriarchalischen Machtstrukturen abgeschworen haben. Damit wird die Weltzivilisation zum Arbeitsrahmen, der in jedem Jahr aus einem anderen planetarischen Impuls befruchtet wird.

1962 war der Beginn der Wassermannzeit. 1972 feierten wir dessen Wiederkehr als Sonnenjahr; doch kurz darauf wurde durch den kalifornischen Astronomen Brady die Umlaufzeit des Schwerkraftpunktes Luzifer berechnet — der im Rad zusammen mit den Mondknoten Rahu und Ketu rückläufig das Wollen bestimmt und nahm die Stelle der Sonne im Löwen ein, die damit zur Geistigkeit befreit wurde.

1982 haben wir bei Sonnenstand auf 15° Schütze, in Konjunktion mit Ketu, das Erdheiligtum auf den Polarstern geeicht. Damit beginnt im dritten Dezennium der Wassermannzeit die praktische Verwirklichung der Impulse.

Die Erde ist eine Einheit geworden, in der jeder Mensch und jeder Ort gleich weit vom Mittelpunkt entfernt sind. Dem Frühlingspunkt der Ekliptik entspringt der Längengrad von Mekka. Daran schließen sich nach Osten, wie ich es in anderen Büchern dargestellt habe, die Tierkreismythen an, mit Arabien im Widder, Indien im Stier, China in den Zwillingen usw. Die Längengrade entsprechen der Planetenfolge des Enneagramms: 0 - 1 Luzifer, 1 - 2 Jupiter, 2 - 3 Venus, 3 - 4 Uranus. Athen, Dublin und Berlin liegen auf einem uranischen Längengrad; der Witz dieser Bewohner ist bekannt (man nennt im Volksmund die Berliner die Spree-Athener). Wien und Hintersdorf im Bereich der Fische sind auf einem Neptunlängengrad. Daher kann von hier aus das jupiterische Fest des Geistes zum Ausgangspunkt einer weltweiten gesellschaftlichen Erneuerung werden.

Impulse sind keine Notwendigkeit, sie wirken nicht kausal, sondern Menschen müssen sie ergreifen. Daher haben wir im Luziferjahr das Erdheiligtum intentional an dieser Stelle begründet; die Zustimmung des Himmels war die Tatsache, dass der Augenblick der Sonne-Ketu-Konjuktion genau auf Aszendent 15° Wassermann fiel. Fortan folgen die Impulse weiter nach den Jahren: 1983 Jupiter, 1984 Venus, 1985 Uranus, 1986 Mond, 1987 Merkur, 1988 Neptun, 1989 Mars, 1990 Saturn und 1991 Pluto; dann kommt 1992 ein neuer Willensimpuls.

1962 bis 1971 standen im Zeichen des Luzifer, die Erde gliederte sich oberhalb aller historischen Ideologien nach den vier Gehirnzonen im Sinn der Noosphäre; gemeinsames Gespräch im Sinn der Radmitte verhinderte das Auseinanderbrechen der Zivilisation.

Das zweite Dezennium im Zeichen des Jupiter brachte die Annäherung aller Gesichtspunkte im Sinne der Aquarian Conspiracy, die psychologischen Bemühungen in ihrem therapeutischen Aspekt standen im Vordergrund.

Das dritte Dezennium 1982 bis 1991 steht im Zeichen der Venus; am Beginn wurde das Heiligtum der Erdgöttin begründet, und überall auf der Erde werden Steinkreise entstehen, die dem einzelnen in der Teilnahme des Achterkreises dazu helfen, seinen Willen auf das Wollen der Erde abzustimmen und seinen Lebensstil in neuer und freudiger Form zu entfalten.

Auch die weiteren Dezennien lassen sich in der Konzeption vorwegnehmen. Doch ist diese Vorwegnahme gefährlich, weil sie dazu verführen könnte, einen Plan zu machen und das echt Neue, das in jedem Jahrzehnt heute unbekannt den Zeitraum prägen wird, zu verhindern. Damit würde eine neue Expertenrolle entstehen, die die Freiheit der Wassermannzeit genauso erstickt wie die Verhärtung der bisherigen Religionen, von denen keine ihre reine Form mehr als drei Generationen zu wahren vermochte. Da wir uns im Dezennium verwandeln, können wir nur als Verwandelte das nächste als Verwirklichungsschritt erkennen.

Die Gefahr der Verhärtung lässt sich überwinden, wenn wir die anderen sieben Feste der Sonne begehen. Hierzu müssen wir sie aus ihrer historischen und ideologischen Liturgie herauslösen und allein aus dem Sonnenort begreifen.

Arnold Keyserling
Das Erdheiligtum · 1988
Die Ur-Riten von Raum und Zeit
© 1998- Schule des Rades
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