Schule des Rades
Arnold Keyserling
Das Erdheiligtum
1. Vom homo sapiens zum homo divinans
Instinkt und Tradition
Die bisherige Entwicklung der Menschheit lässt sich in Analogie zum Reifen einer Person begreifen. Ein Kind lebt in der Einheit zwischen Imagination und Wirklichkeit, rechter und linker Hemisphäre, Wachen und Traum, und ist im Spiel aus seinen Motiven getragen. Dies entspricht der altsteinzeitlichen, magischen Mentalität des homo faber, der während hunderttausend Jahren als werkzeugschaffendes Tier in Harmonie mit seinen Instinkten, mit der Natur lebte und seine sprachliche Fähigkeit nur zur Darstellung seiner Visionen in bildnerischer und dramatischer Form verwandte.
Mit der Erziehung beginnt die Betonung der soziokulturellen Tradition, zuerst unter dem Einfluss der Mutter im Lernen bestimmter Verhaltensschemata ohne Erklärung. Damit verschiebt sich der Schwerpunkt von den eigenen Motiven zu dem zu Erlernenden, wobei die Mutter tatsächlich Macht über das Leben des Kindes hat. Dies entspricht der matriarchalischen Epoche nach der neolithischen Revolution, der Wandlung vom homo faber zum homo sapiens, als die Instinkte durch geglaubte und sprachlich fixierte Mythen und Riten ersetzt wurden, die widerspruchslos befolgt werden mussten. Wer sich an ihnen versündigte, wurde zum magischen Tod verurteilt. Diese Haltung kennzeichnete die beginnenden Pflanzer und Tierzüchter.
Marx hat also recht, wenn er den Beginn des Privateigentums und der Hierarchie zur Ursache des entfremdeten Bewusstseins erklärt. Bei den Sammlern und Jägern der Altsteinzeit gibt es weder Besitz noch Hierarchie; ein achtjähriges Kind eines Buschmanns der Kalahariwüste beherrscht noch die Gesamtheit seiner Kultur, ist zum Überleben fähig und nicht auf Vorbilder und Abhängigkeiten angewiesen.
Mit dem Lesen- und Schreibenlernen, also der Volksschule, verschiebt sich der Akzent von neuem. Es wird entscheidend, die eigene analytische und synthetische Fähigkeit zu entfalten, sich durchzusetzen und seine spätere beruflich-soziale Rolle zu finden und auch auszuüben. Während der Mythos vieldeutig ist und alle Interpretationen akzeptiert werden, solange der geglaubte Zusammenhang nicht verlassen wird — die Gemeinsamkeit vor dem Turmbau zu Babel — wird nun die Strategie, und damit der Vater, wesentlich, dessen biologische Aufgabe die Erziehung zur Selbständigkeit, zum Flüggewerden bedeutet.
In allen Völkern wurde dieser Schritt vom Matriarchat zum Patriarchat als Befreiung gefeiert, am klarsten im griechischen Kampf der Vorsokratiker gegen den Mythos im Zeichen des Logos. Die Mutter wurde in ihrer Bedeutung überall zurückgedrängt. Fortan war die Hierarchie das Urbild des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Joseph Campbell meint, vielleicht wäre das biblische Datum der jüdischen Weltschöpfung, 4004 vor Christus, tatsächlich als der Beginn der patriarchalischen Religion zu verstehen. Immer mehr wurde der Bereich des Männlichen gegenüber dem Weiblichen erweitert.
Mit dem Beginn des Siegeszuges der Naturwissenschaft im 15. Jahrhundert wurde die Rolle des Mythos und der Religion weiter entwertet, bis dass sie zu Beginn dieses Jahrhunderts in der allgemeinen Weltanschauung des Szientismus kaum mehr Macht besaß.
Doch die männliche Rolle des Erfolges in der Strategie kann nur in einer orthodoxen Einstellung gegenüber dem Wissen und der Gesellschaft, also im Fürwahrhalten einer bestimmten Lebensweise bestehen. Der überwölbende mythische Zusammenhang wandelte sich in den Ideologien zu den vier früher zitierten Weltanschauungen von Westen und Osten, Norden und Süden.
Deren Macht kann nur in einer Überlebensangst gewahrt werden; man bedarf des Feindbildes, um weiter bestehen zu können. Deshalb sind die heutigen Kassandrarufe der Todeskampf der Ideologie. Denn schwindet für den einzelnen die Angst, lässt er sich nicht mehr durch die Berufung auf den Feind einschüchtern, so tritt die Frage nach dem Sinn, nach der persönlichen Lebensleistung im Unterschied zu den orthodoxen konservativen Auffassungen in den Vordergrund.
Die Zweiheit von Instinkt und Tradition, letztere neuerdings als Fortschritt der Wissenschaften definiert, wird fragwürdig; mit den Postulaten der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der Selbstbestimmung werden die essentiellen Fragen des möglichen Lebenssinnes wieder akut.
Die matriarchalischen Göttinnen wurden durch den patriarchalischen Vatergott verdrängt, der sklavisch befolgte Mythos, der Gehorsam gegenüber der Vision der rechten Hemisphäre, durch den nachprüfbaren Logos der linken.
Heute wird aber auch der Vatergott problematisch, und damit kommt es zur entscheidenden Wandlung: Sowohl Vatergott als auch Muttergöttin erweisen sich als Projektionen des menschlichen Reifeprozesses. Das Ziel des heutigen Menschen ist die lebendige Teilnahme an der Kultur, die Mitarbeit mündiger Menschen an der Zivilisation. Für die matriarchalischen Völker war das Verhalten fixiert, das selbständige Fragen tabuisiert. Für die patriarchalischen Völker sind es alle irrationalen Gegebenheiten, die nicht durch das Denken zu meistern sind: Tod, Geschlecht, Instinkt und Intuition.
Der patriarchalische homo sapiens nahm das Gehäuse des Lebens, dessen letzter Ausdruck die technische Zivilisation darstellt, für das Ganze. Aber sowohl die Naturwissenschaft als auch die Philosophie und die Psychologie sind heute dabei, diese Vorherrschaft zu brechen, das Weibliche wieder in seinem Wert zu bestätigen und die Rückbindung an die tatsächliche materielle und geistige Wirklichkeit zu schaffen, die nicht aus der Wissenschaft gefolgert werden kann, sondern einfach irrational besteht.
Dieser Schritt bedeutet eine neue Reifestufe der menschlichen Kollektivität, die auch der einzelne vollziehen muss: die Überwindung des homo sapiens durch den homo divinans. Dieses Wort ist doppelt zu verstehen. Einerseits als divinare, Fähigkeit der Intuition; anderseits als divinus, Finden des göttlichen Kerns jedes Menschen als wahres Subjekt. Alle heute sozial bedeutsamen Bewegungen, wie sie Marilyn Ferguson in ihrem Buch Aquarian Conspiracy geschildert hat, münden in diese Verwandlung, die in ihrer Bedeutung historisch nur der Mutation der neolithischen Revolution zu vergleichen ist. Damals stellte sich die historische Tradition der Kulturheroen gleichberechtigt und später übergeordnet neben die Instinktgeborgenheit. Es war ein Schritt voran. Heute bedeutet diese Wandlung gleichzeitig einen Schritt zurück vor die Revolution, in die Altsteinzeit mit dem homo faber. Nur durch Wiederannahme der Instinkte kann die Intuition, der Zugang zum persönlichen Lebenssinn, auf bewusster Ebene freigelegt werden.
Damit sind Vatergott und Muttergott als soziologische Schemata ohne metaphysische Wirklichkeit entlarvt, und es wird notwendig, die Koordinaten des Göttlichen neu zu bestimmen.