Schule des Rades
Arnold Keyserling
Das Erdheiligtum
1. Vom homo sapiens zum homo divinans
Die vier Kräfte
In jeder Zeit muss die Beziehung zum Göttlichen durch irdische Erfahrungen verdeutlicht werden. Der matriarchalische Mensch erlebte sich im Bild der Jahreszeiten, Tod und Wiedergeburt glichen dem Sterben und Vergehen, und Neugeborenwerden der Pflanzenwelt. In der patriarchalischen Zivilisation war Gott König und Herr, der Schutz vor Feinden jenen bot, die ihm gehorsam folgten. Die heutigen Mächte dagegen sind die wissenschaftlich verifizierbaren. Für die Physik gibt es nur vier Kräfte — zwei makrokosmische und zwei mikrokosmische. Makrokosmisch sind die Schwerkraft und die Strahlungsenergie, der Elektromagnetismus. Mikrokosmisch sind die starken Bindekräfte, die den Atomkern zusammenhalten und etwa bei der Atomzertrümmerung frei werden, und die schwachen Bindekräfte, die chemisch den Aufbau der Atome zu Molekülen und Zellen, zu Organen und Organismen ermöglichen.
Der Mensch ist ein Subjekt; als Ebenbild Gottes ist er causa sui, Ursache seiner selbst. Dies kann er nur sein, wenn er die Göttlichkeit hinter den vier Kräften versteht.
Ursprung der Gravitation, der Schwerkraft, ist für uns die Erde. Alle Kraft geht von unten nach oben. Der Erde verdankt der Mensch seine Fähigkeit der Verwandlung der Welt; er verwendet damit die longitudinale Schwingung, die von ihr ausgeht. Nur wenn er sie auf die Erdfrau bezieht, also die Geborgenheit in der Urkraft findet, verschließt er sich nicht in seinem Ichbild.
Alle elektromagnetische Energie des Lebens entstammt der Sonnenstrahlung und dem Himmel. Alle Bilder, die uns bewusst werden, sind fordernd. Wenn der Traum die Wachwelt ergänzt, so heißt das, dass dem Traum bzw. der Vision eine prospektive Kraft innewohnt. So ist der Gegenpol der Urkraft (der Erdfrau), der Mensch im All, das Bild möglicher Vollendung, das wir von ihm von Augenblick zu Augenblick erfahren. Der Tierkreis ist keine Projektion des menschlichen Bewusstseins an den Himmel, sondern das Schema möglicher Vollendung. In den starken Bindungskräften wird Energie zur Masse, Gammastrahlen verwandeln sich in Wasserstoffatome, Visionen werden magische Wirklichkeit.
Der Künstler ist mittelbarer Magier, der Schamane unmittelbarer. Daher müssen wir als personalen Ursprung der starken Bindungskräfte Gott als die Liebe annehmen, als unser dauerndes Gegenüber, das die Gnostiker als Pleroma bezeichnen; als die Fülle, die dauernd dem göttlichen Nichts entspringt und keinerlei Urteil über die Welt abgibt.
Die schwachen Bindungskräfte, die chemische Verbindungen schaffen, sind die Fähigkeit des Menschen, im Denken von weniger zu mehr zu werden. Im Empfinden kann der Mensch sich differenzieren, besser unterscheiden; im Fühlen seine Triebe harmonisieren; im Wollen klar sein, das Kommende gläubig empfangen. Im Denken kann er mehr werden, wenn er nicht dem Gedächtnis, der Trägheit verfällt, und immer wieder die Müdigkeit überwindet, bis dass ihn der Tod zu einer noch höheren Mitarbeit befreit.
Die Welt des homo divinans ist überall im Entstehen begriffen und setzt sich gewaltlos gegen die ideologischen, sterbenden Formen der Zivilisation durch, getragen aus dem guten Willen vieler einzelner.
Doch nun ist es an der Zeit, für diese Wandlung die Hilfe von Gott, Erde und Himmel direkt anzusprechen. Dies wird dadurch möglich, dass die Kriterien von Raum und Zeit — als Maß und Schwingung Parameter der erfahrbaren Sinnesqualitäten — ihre Heiligkeit als Zugang zur nagualischen Potentialität allen Daseins, das Pleroma wiedergewinnen. Daher gilt es, die nunmehr menschheitliche Zivilisation auf die Urriten von Zeit, Raum, Mensch und Gott zu eichen und die Menschheit als Gattung, als Mensch im All, jenseits aller Bekenntnisse und Gruppen als echten Partner und Freund des strebenden einzelnen zu erkennen.