Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das Erdheiligtum

2. Fülle der Zeit

Motivation - Intention

Den meisten Menschen ist Zeit als Uhrzeit, als Chronos bewusst: als Tag, Jahr, Lebenskreis und vielleicht noch als Weltenjahr. Doch diese kreisförmige Zeit ist nur der gegenwärtige Rahmen des Zeiterlebens, in dem es Langeweile und Kurzweil gibt, so wie die Taktstriche einer Partitur den Rahmen von Harmonie, Rhythmus und Melodie bilden.

Die Zeit des Erlebens der lebendigen Dauer, des Kairos, hat zwei Koordinaten:

  1. Die Motivierung, die den Menschen aus der Vergangenheit zu bestimmten Handlungen bewegt.
  2. Die Intentionen, die aus den Erwartungen für die Zukunft stammen.

M o t i v a t i o n · I n t e n t i o n

Das Zeiterleben hat seinen Ursprung im Hören, das als einziger Sinn die Dauer bewusst macht. Daher sind es die Gesetze des Tonal, der Musik, die den Rahmen für das Bewusstsein schaffen. Der kleinste gemeinsame Nenner der Tonwelt, in dem alle möglichen Intervalle als erlebbare Zeitbeziehungen miteinander in Beziehung treten können, ist die zwölffältige temperierte Stimmung, wie sie etwa das Klavier zeigt. Demgemäß ist auch der zeitlich vorstellbare makrokosmische Rahmen das zwölffältige Jahr von Sonne und Mond, der Tierkreis, der uns sowohl die Motivationen als auch die Intentionen verständlich machen wird.

Das Bewusstsein als Gewahrwerden beruht auf der Fähigkeit, die Mitte der Erde als Zentrum der Schwerkraft zu erfahren, von welcher aus die Richtungen des Raumes in der Zeit als Bewegung zu erkennen sind.

Im Osten geht der Himmel auf, im Westen geht er unter; im Norden dreht er sich um den Polarstern, und im Süden lässt er die Fülle der Wesen erkennen.

Dieses Bewusstsein hat sieben Komponenten: vier Erlebensweisen des Nacheinander und drei des Miteinander. Sie werden aus der menschlichen Gehirnstruktur einsichtig.

Drei bleibende Strukturen sind ineinander-übereinander:

N e u r o l o g i eG e h i r n s t r u k t u r

  • Der Körper als Summe aller Bewegungsvorgänge und Verhaltensweisen hat seine Steuerung im Rückenmark, Stammhirn und Kleinhirn.
  • Die Seele als Summe aller personalen Beziehungen und Verhältnisse — zu Eltern, Gleichaltrigen und Kindern — hat ihren Schwerpunkt im limbischen System, dem Zwischenhirn mit seinen beiden Parametern der Vermeidung von Schmerz und der Wiederholung von Lust.
  • Der Geist, die Einbildungskraft als Teilhabe an der Welt des Imaginalen, hat seinen Schwerpunkt im Großhirn, Sitz der kreativen Assoziation. Dieses zeigt eine vierfaltige Gliederung:
  • Die linke Hemisphäre öffnet sich dem analytischen Zeiterleben und der Welt der Sinnesdaten, des Wachens; empfinden.
  • Die rechte Hemisphäre ist der Zugang zur synthetischen Raumvision und der Welt der Triebe und Träume; fühlen.
  • Die hintere Zone ist die Ebene der Sprache, die Sinnesdaten und Triebe zu Worten vereint und damit das Gedächtnis ermöglicht als Ansatz des strategischen Wirkens in der Welt; denken.
  • Die vordere Zone, in der die Aufmerksamkeit im Sekundenrhythmus zwischen linearer Beobachtung und kreisfömiger Erinnerung wechselt, ist der Ort der Wahl, der Kraft und der Zuwendung, des Wollens, durch welches neue Inhalte aufgenommen und Handlungen begonnen werden.

Die systematische Begründung dieser Struktur habe ich in meinen Kriterien der Offenbarung geschildert, ihre methodische Integration in Vom Eigensinn zum Lebenssinn.

Hier geht es nun darum, die chronologische Zeit als Vorstellungsrahmen zu integrieren, indem die vier Funktionen — Sinne des Empfindens, Triebe des Fühlens, Sprachen des Denkens und Kräfte der Entscheidung und Entschließung des Wollens den drei Bereichen, dem materiellen des Körpers, dem personalen der Seele und dem imaginalen des Geistes eingegliedert werden. Damit ergibt sich die zweifältige Struktur der Zeit als verschiedene Richtung des Kreises:

  • Die Motivationen des individuellen Einstellungskreises sind linksläufig zu begreifen.
  • Die Intentionen des Menschheitskreises sind rechtsläufig zu begreifen.

Im matriarchalischen und patriarchalischen Denken des homo sapiens war die Zeitstruktur in ihrer Bedeutung den Vorbildern bestimmter Menschen und Geschichtsdichtungen untergeordnet, die als Kulturheroen, als göttliche Inkarnationen oder Vermittler von Offenbarungen einen Weg zur Vollendung geschaffen haben, und deren Nachfolger diesen mangels besseren Wissens als einziggültigen betrachteten.

Arnold Keyserling
Das Erdheiligtum · 1988
Die Ur-Riten von Raum und Zeit
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD