Schule des Rades

Arnold Keyserling

Fülle der Zeit

I. Botschaft

18. Dezember 1972

Der Weg führt aus dem Dunkel zum Leben. Wer nicht versucht, das Dunkel zu achten, kann nie das Licht erleben. Suche weiter nach dem Trüben und schaffe täglich neue Dinge.

Was ist das Dunkel? Es bedeutet sich ganz der Liebe anzuvertrauen, das Ungewisse als bergend zu erkennen und sich nicht zu fürchten dass man nicht weiß, wohin der Weg führt. Er führt aus dem Dunkel, aus der Geborgenheit zum Leben. Was heißt nun Leben? Es bedeutet Entfaltung, hat kein Ziel, das erkennbar ist, sondern Triebe, Motive, die ihr Gesetz in sich tragen. Ein Weg verbindet das Dunkel, das geborgene Urvertrauen mit dem Leben, dem Wachstum.
Wer nicht das Dunkel achtet, hat keinen Ausgangsort und kann deshalb nicht zum Licht, welches nur das Leben erfährt und nicht das Dunkel, das keiner Hilfe bedarf, weil es alles in sich trägt als Kraft und Sporn. Die Suche nach dem Trüben bezieht sich auf das, was geklärt werden kann. Im Klaren schaffst du neue Dinge, weil erst durch das scheinende Licht ihre Verschiedenheit und Sonderheit sichtbar wird. Jeden Tag muss man so beginnen, denn nur damit entsteht der Weg, der über das Leben die Urgeborgenheit mittels des Schaffens mit der strahlend-scheinenden Harmonie verbindet.

Ich bin dauernd in deiner Gegenwart und zeige dir mal für mal, wohin du dich wenden sollst.

Ich bedeutet die Fähigkeit, ein Wer zu sein. Dieser Wer ist meine Steuerung, die mir ermöglicht, mich in verschiedene Richtungen zu wenden. Nur darin entsteht Gewahrsein: in der Fähigkeit sich zuzuwenden, zu beobachten, wobei das Zeigen bedeutet, dass diese Zuwendung das Ich im Mal zu Mal, also im Nacheinander erschafft. Das Wohin kommt aus dem Menschen im All, die Welt hat keine Subjekte, die Zuwendung verlangen, da meiner Einzelheit und Einzigkeit nur die Allheit zum Partner werden kann.

Versuche nur, Schritt für Schritt deine Gedanken zu messen und dann in die Wirklichkeit zu setzen.

Versuchen bedeutet, dass die Anstrengung, das Beginnen, der Ansatz zählt. Die Gedanken messen, sie mit allen Dingen und Gedanken anderer in Beziehung und Zusammenhang zu setzen: das heißt sie in die Wirklichkeit zu bringen, auf dass sie bestehen und Wirkende werden.

Keine Macht kann deine Arbeit brechen, da sie aus der Fülle meiner Kraft entsteht.

Macht ist eine Wirkweise, die aus einem einzelnen Subjekt kommt wie etwa die Macht eines Führers oder Beamten. In ihrem Bereich förderlich, ist sie nicht imstande die große Arbeit zu zerstören, die aus der Fülle kommt. Fülle bedeutet, dass die Rolle dieser Arbeit auf der Potentialität, auf der Kraft des Vermögens beruht, die dauernd aus dem Nichts entsteht.

Alle, die mit dir sind, werden den Segen wahren.

Mit dir sind heißt im intensiven Zusammenhang leben, also aus der Vereinzelung in die Liebe zu treten. Segen ist das Förderliche, das immer alles zum Guten wendet. Jemanden zu segnen bedeutet seine Richtung zu fördern und zu entgiften. Das kann der Einzelne nicht aus seiner Macht, sondern nur als Durchgangstor des All.

Keine Sucht kann die Richtung zerstören, wenn du täglich in Zwiesprache bleibst.

Sucht heißt mitgerissen zu werden von einer Macht, die weder aus der eigenen Wurzel noch aus dem All kommt, sondern aus Pflanzen oder Verfallenheit. Sucht kann positiv ein falsches Ichbild sprengen, den zu klein gewordenen Kosmos in ein Chaos verwandeln, das sich dann alsbald zu einer neuen Richtung verfestigt, und aus der Statik in die Dynamik führt. Täglich heißt weder aus der Vergangenheit des Körpers noch aus den Erwartungen des Geistes anzusetzen, sondern aus der Zwiesprache mit dem Menschen im All, der der wahre Partner ist und das eigentliche Ich schafft.

Ich bin und bleibe dein Begleiter; suche nicht mehr nach anderen, sondern vertraue, denn der Weg ist lang und die Zeit kurz. Viele Kämpfe beginnen und alle Kraft wirst du brauchen, um dich dem Schicksal gewappnet zu zeigen.

Ich bin ist Teilhabe am Sein. Begleiter ist nicht Führer oder Herr, sondern Freund und Partner. Die Verführung, nach anderen zu suchen entsteht, sobald man sich mit einem Teilich identifiziert. Vertrauen ist Hingabe und Mut. Der Weg ist lang, die Zeit kurz: die Zeit schafft die Dichte des Geschehens und überwindet die Langeweile; nicht die Zeit dehnt sich, sondern die Straße des zu Tuenden. Kämpfen heißt Einstehen ohne Aussicht auf Erfolg. Alle Kraft ist die Gesamtheit des Einsatzes. Gewappnet zu sein verlangt die Mittel, das Wissen und die Methoden verfügbar zu halten, um das Schicksal, den Kairos, die Möglichkeit der Zeit zu erfüllen.

Berufen bist du nun, Herr der Zeit zu werden. Keine andere Form der Verwirklichung bleibt dir, wo ich dich gewählt habe.

Herr der Zeit: ein Herr ist ein Beherrschender, ein Meister. Die Zeit ist der Born alles Bestehenden, aus ihrer Möglichkeit entsteht alle Verwirklichung. Wer in der Raumvorstellung verharrt, sieht nur das Mögliche, das das Wirkliche ergänzt, und kann daher nicht schöpferisch wirken.
Keine andere Form bleibt mehr tragend, keine Stellung, kein Besitz, weil diese dem Bestehenden entstammen und Teile der Masse sind. Das Ich entsteht durch den Willensakt des Menschen im All, der mich wählt und nicht ich ihn. So muss der einzelne warten, bis der Ruf oder die Vision kommen, deren Forderung unausweichlich ist.

Bleibe in deinem Wesen mit all denen, die zu dir finden.

Der Anruf für den Einzelnen kann nicht von uns geschehen, sondern nur vom Menschen im All und richtet sich an jedes werdende Ich. Doch diese Ichs finden den Zusammenhang und wissen, dass die Arbeit gemeinsam ist.

Schon morgen beginnt die neue Aufgabe, du wirst es verstehen, sobald sie da ist.

Die Aufgabe beginnt schon morgen: schon heißt unerwartet, man darf sich nicht vorbereiten. Morgen: die Zukunft kommt zu. Aufgabe: es ist ein konkretes Ziel, das in seiner Ganzheit erscheint, doch erst verständlich wird, sobald es enthüllt ist. Man muss Es verstehen, nicht die Aufgabe als dinghaft oder kraftvolles Tun, sondern die Art und Weise, wie man Vision oder Audition als Schritt der Verwirklichung begreifen kann.

Nirgends Halt kann ich dir geben, nur im Sein bin ich bei dir, Fülle des Gewahrseins mit Kraft zum Tun. Wer sich nicht mit deinem Weg vereint, geht zugrunde.

Halt bedeutet Geschlossenheit, Abspaltung des Ichbildes, Erklärung, sachliche Hoffnung oder Erwartung. Im Sein heißt im Spüren der All-Einheit, die aber nicht Verschmelzen mit dem Urgrund bedeutet, sondern Begleitung: bei dir. Die Fülle des Gewahrseins hat alle Illusion hinter und unter sich gelassen, verdoppelt nicht die Welt mit einer Scheinwelt der Ideologie wie die Glaubensbekenntnisse; daher hat sie die Kraft zum Tun, zur Mitwirkung. Solch ein Weg ist eine neue Stufe der Bewusstwerdung, ein Erwachen. Daher geht jener, der sich nicht mit diesem zeitgemäßen Weg vereint, zugrunde. Seine Lebensleistung wird Material der Verwirklichung für andere. Traditionen haben keinen Wert mehr, alle Geschichte und Überlieferung ist gleichwertiger Stoff, den der schöpferische Mitarbeiter in die zeitgemäße Gestaltung gießt.

Dies ist die erste Botschaft, nimm sie auf und bleibe wach. Viele werden kommen.

Der Anfang ist die Erkenntnis, dass der Mensch im All existiert und alle Inspiration immer von ihm kommt; dass es keine kreative Persönlichkeit gibt, sondern nur die Inspiration, auf die man antwortet, sobald man wach ist, also nicht Trugbildern oder Wissensformen nachhängt, die keine Substanz haben. Wach zu bleiben erfordert das Wissen und die Methodik des Rades, Durchstoßen zum höheren Selbst. Viele Botschaften werden kommen: die fünfzehn, die hier geschildert sind, bilden die ursprüngliche Offenbarung, die den Boden der Wassermannzeit, der brach liegt, aufschließt.

Du bist der Mann, der alles andere wandelt. Und zweifle nicht, dass sie kommen werden, sobald dein Ruf ertönt. Habe Mut und Glauben zu dir und zu mir, dann kann nichts dir widerstehen.

Du bist der Mann, der alles wandelt: keine Geschlechterrolle, sondern Mann heißt beginnen, Frau heißt erfüllen, jeder ist immer beides. Nicht etwas gilt es zu wandeln, sondern alles. Und: hierzu muss man den Willen setzen, nicht daran zweifeln, dass alle kommen. Nur das Wort muss erschallen, wodurch der Ruf des Menschen im All jedem vernehmbar wird. Mut zu sich selbst heißt vermeintliche Sicherheiten ablegen, Glaube das Festhalten der erlebten inneren Wahrheit. Ich und Mensch im All sind unlösbar verbunden, sobald die Wahl geschehen ist. Gegen diese Entscheidung gibt es keinen möglichen Widerstand, weil das Ganze der Welt hinter ihr steht und in sie einfließt.

Halte fest das eine Gebot: Liebe als Pfand der Verwirklichung. Denn nur aus Liebe kann der Widerstand der Faulen gebrochen werden.

Liebe ist Teilhabe, kein Tun, aber Erleben der Wonne, die die Abspaltung des Todes sprengt. Der gefährliche Widerstand ist die Faulheit. Die Liebe überwindet sie, weil sie bis zum Herzen auch bei jenen durchstößt, deren Wollen im Schlaf ist; immer will das Herz erwachen, ist also der Komplize des Liebenden.

Dein Wille und mein Weg werden eins. Versuche täglich dich zu üben, meine Worte zu erkennen und zu befolgen.

Mein Wille setzt an vom Dunkel, sein Weg kommt aus dem Licht. Durch die tägliche Übung wird unterschieden, ob die Worte eigenes Denken, Erinnerung, Phantasie oder tatsächlich Inspiration sind. Nur diese lässt sich befolgen, weil sie ein Strom ist, der nie versiegt.

Heute habe ich dir das erste Zeichen gegeben, das dich führen soll. Morgen wird der Nachmittag neue Dinge dir zeigen.

Nur wenn man heute das Zeichen als Anlass nimmt. kann der nächste Nachmittag — 12 bis 2 Uhr IX. Haus — die Schritte zur Folge fügen.

Halte dich in Strenge und Lebendigkeit, dann erscheint dir mein Licht von überall. Suche dich nicht mehr, denn du bist da und ich stehe vor und mit dir, um das Werk zu vollenden.

Strenge bedeutet Klarheit und Genauigkeit, Lebendigkeit niemals nachlassende Intensität. Es ist schwer anzunehmen, dass man sich gefunden hat und nicht weiter nach einer fiktiven Vollendung sucht. Sobald man da ist und sich weder kritisiert noch bemitleidet, ist der Zugang zu ihm da, vor einem als Weg, bei einem als Hilfe, wenn der eigene Wille in das Werk einrostet.

Ich bin der Große Alte der Verwirklichung, der Heilige aller Zeiten und Welten; das Urbild jeder Religion, jeglichen Denkens und Strebens.

Hier nun ist die Verkündigung: die Stimme der Menschheit ist der Große Alte der Verwirklichung, der hinter allem steht, was menschlich geschieht; der Heilige aller Zeiten, weil die Heiligkeit, die Potentialität der Vollendung jenseits der Entwicklung ist. Das Urbild jeder Religion: sie ist immer Rückbindung zum All; jeglichen Denkens: das Rad ist der Raster, die Klaviatur allen Erkennens, die immer zeitgemäß sein muss doch das gleiche meint, nämlich die Fähigkeit, Wissen operativ zu verwenden; und Streben hat ein Ziel, nämlich Mitwirkender zu werden, Mitarbeiter, islamisch Freund Gottes.

Wer mich hat, braucht kein zweites. Er lebt im Sein und genießt die Freude der Teilnahme.

Haben bedeutet den Ursprung zu wahren, keine Trennung zu verspüren. Die Freude der Teilnahme, griechisch Methexis, ist echte Religion als Vollendung des Glaubens, der damit alles Meinen und Fürwahrhalten verliert; er wird zu einer anderen Seinsmodalität.

Höre auf deine innere Stimme, sie weist dir von Tag zu Tag den notwendigen Schritt.

Der Weg setzt vom Dunkel, den Motiven an. Die innere Stimme ist jenseits des Schlafes. Schritte müssen immer notwendig sein, kein Spiel oder Experiment.

Bleibe im Leben, dein Weg ist mein Weg, durch dich festige ich mein Reich.

Das Leben wird in Verhärtung, Trauer, Selbstsucht und auch Selbstsuche verlassen. Die Eigenmächtigkeit der Vergangenheit übernimmt das Dasein wie eine Grammophonplatte. Es gibt keinen eigenen Weg, nur jenen der Gattung Mensch. Wer aller kleineren Gemeinsamkeit unterhalb der Menschheit entsagt, festigt die Reichweite des neuen Gewahrseins.

Ich bin der lebendige Zeuge des Sehens. Das wirst du verstehen, wenn deine Schritte sich reihen und du den immer nächsten erspürst.

Zeuge des Sehens: der Sehende macht nicht nur bewusst, er schafft mit seinem Blick eine neue höhere Integration. Sobald man die größere Einheit sieht, verwirklicht sie sich. Aber das versteht man erst dann, wenn aus einzelnen Erkenntnissen und Entscheidungen ein Weg entsteht, den man nach hinten zu als zusammenhängende Spur oder Bahn verfolgen kann, wodurch man in die Zukunft reicht, weil der nächste Schritt aus der Bereitschaft des Vergangenen erspürt wird.

Suche die dunkle Liebe als Weg zur hellen Freude und schaffe allen anderen Genossen Gedanken und Hilfe.

Die dunkle Liebe bejaht die Motive, Triebe und Wünsche der anderen. Erst wer diese hat im Unterschied zur gemeinsamen Richtung einer geistigen Idee, der kann die anderen als Freunde, als Verschiedene bejahen und ihnen Gedanken als Werkzeuge zum Nutzen geben und auch Hilfe: Hilfe im Sinne des Lebens, das dem Freund seine Selbständigkeit nicht entreißt.

Lebe nun wohl bis morgen. Der Mensch im All ist Ich.

Dieser Satz ist die entscheidende Offenbarung. Lebe wohl bis morgen: halte also durch in der Nacht und der Trübung ohne Angst. Der Mensch im All ist Ich — nicht bin Ich, wie der jüdische Gott. Sobald wir überhaupt Ich sagen, sind wir nur dann wahrhaftig, wenn wir bewusst als Teil der kosmischen Gattung wirken.

Arnold Keyserling
Fülle der Zeit · 1986
Botschaft des Menschen im All
© 1998- Schule des Rades
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