Schule des Rades

Arnold Keyserling

Fülle der Zeit

V. Botschaft

24. Dezember 1972

Heute besteht eine große Versuchung, nämlich die Fülle des Lebens in Einzelheiten zu gliedern. Davon lasse ab. Alles geschieht im Maß der Zeit und des Wesens. Was du auch tust, es muss immer seine Folge behalten. Ich habe dir nicht den Schlüssel gezeigt, weil die Zeit noch nicht reif ist. Bald wirst du ihn haben, und dann entsteht jeden Tag ein neues Wesen.

Hier wird die Gefahr des rationalen Ich umrissen. Die Überwindung der falschen Steuerung wird erreicht durch die Anerkennung der Eigenmächtigkeit der Zeit, der Reihung, die dem lebendigen Fluss und nicht der Planung entstammt. Erst wenn weitere Vorbedingungen erfüllt sind, kann der Weg zum Sinn in Freude angegangen werden und ist die Gefahr überwunden, die kleine bürgerliche Vollendung, die silberne Rose der Alchemie anzustreben und damit die goldene Rose, die Tinktur zu vergessen, die alles, was sie berührt, in lebendiges Gold verwandelt.

Du hast heute Nacht einen Einblick erhalten in jene Probleme, die deinen Weg bestimmen. Die drei Brüder reißen sich nicht los, sondern wollen deine Hilfe. Die neuerbaute Kirche zeigt das Warten auf Hilfe anderer, die Krönung bezieht sich auf Dinge, deren Sinn sich erst klärt. Die Flucht vor den beiden Alten am Ende zeigt die Angst, die dadurch kommt, dass unachtsame Worte nicht einbehalten werden. Verlange nicht eine Deutung, die Bilder genügen sich. Ich halte deine Fragen als Pfand für neue Entscheidungen.

Ich war vor dreizehn Jahren nicht reif, die Zusammenhänge im Wachen zu verstehen und so erfuhr ich einen Visionstraum, dessen Bedeutung mir inzwischen klar wurde. Die drei Brüder meiner Mutter waren keine Feinde, wie sie im Traum zu sein schienen, sondern wollten Hilfe. Es sind die drei unbetonten Funktionen, die bei einer Handlung immer mitschwingen müssen, wenn eine im Vordergrund steht. Nur die Leitfunktion ist bewusst, ob sie nun Denken, Fühlen, Empfinden oder Wollen sei. Die anderen, vor allem die minderwertige verachtete Funktion, gilt es zu integrieren.
Die neuerbaute Kirche, das Erdheiligtum ist nur aus dem Willen aller zu gestalten.
Die Krönung — im Traum Beiwohnung einer Kaiserkrönung zeigt, dass das höhere Selbst fortan zugänglich wird.
Die Flucht vor den beiden Alten — im Traum hatte ich ihren Weg nicht als berechtigt geachtet, sondern wollte sie zu Veränderungen zwingen — war ein falscher Gedanke.
Die pflanzlich gewachsenen Traditionen müssen ihr eigenes Ende finden.

Was heute Not tut, ist die Versenkung in die Betrachtung der wahre Liebe. Gestern entstand kein Wesen, heute wird es geboren zwischen euch. Es ist das Wesen des werdenden Lichts, das euch fortan begleiten soll. Sobald Dunkelheit in eure Beziehung tritt, vertraut auf dieses Wesen der Klarheit. Alles löst sich im rechten Moment, wenn es bis zuletzt durchgehalten wird.

Christus als Wesen des werdenden Lichtes ist jedem zugänglich, der in Not ist und seine Begleitung von Weihnachten an annimmt; sein Stern wird dem Suchenden zur Hilfe.

Zeuge du von dem Ding, das dir neu zukommt. Die Lage richtig zu sehen — das Bild der neuen Zeit halten — den entscheidenden Schritt vollziehen — das sind Glieder eines Vorganges: Halte das Wirkliche fest, dann schwindet der falsche Schein.

Die tatsächliche Fügung zu verstehen im dialektischen Werden: Sehen der Lage, Halten des Bildes, Vollzug des Schrittes — ist der Ansatz zur Wandlung der Wirklichkeit, auf dass der Mensch im All seine Rolle öffentlich einnehmen kann, was ohne unsere Hilfe und Bemühung nicht möglich ist.

Was die Lage angeht, so besteht Aussicht, dass morgen die Tiefe dir neu zugänglich wird. Ich bleibe im Dunkel, doch bin ich immer dabei, wenn etwas Wirkliches geschieht.

Der Traum ist verhüllt, kann aber geklärt werden. Der Mensch im All erscheint nicht, er gibt den jeweiligen Anlass.

Arnold Keyserling
Fülle der Zeit · 1986
Botschaft des Menschen im All
© 1998- Schule des Rades
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