Schule des Rades
Arnold Keyserling
Fülle der Zeit
VI. Botschaft
25. Dezember 1972
Der heutige Tag hat eine andere Bedeutung: Die Wirklichkeit rückt näher. Die Zeit schnellt heran, sie überstürzt sich. Hast du die eigenen Schwierigkeiten abgelegt, so bist du bereit für die Aufgabe. Der Wunsch in dir regt sich, die Wirklichkeit zu bestimmen und zu verstehen.
Sobald der kleine seelische Zusammenhang gesprengt ist und nicht mehr den selbstverständlichen Rahmen bildet in Beruf und Familie, Persönlichkeit und gemeinschaftlicher Stellung, erwacht der Wunsch nach dem großen Strom. In Krisenzeiten ergreift dieser alle und gleich wie die Krise ausgeht, ist es ein großes Erleben, wie etwa die ungarische Revolution für die Beteiligten, an die sie sich gerne wegen der Intensität erinnern. Kommt die Krise persönlich, dann erfordert sie eine Neuorientierung und Einstellung in der Wirklichkeit, und man wird ungeduldig, sucht die totale Wandlung manchmal bis zur Selbstzerstörung.
Harre aus, es gibt keine Beschleunigung der Erkenntnis, sie wächst nach ihrem eigenen Gesetz. Unendlich ist die Kraft, der alles entstammt, unendlich ist die Kraft des Handelns. Versuche heute den Grund aufzuspüren und die Kraft zu sammeln. Wer sich dem Anruf verschließt, der schließt sich selbst. Denn ohne Anruf keine Kraft.
Der Anruf kommt vom Menschen im All, unser aller wahres Ich. Ist er vernommen, bildet er eine neue Mitte, die allmählich alles in ihren Bann zieht. Man spürt die Unendlichkeit der beiden Urkräfte, aber sie wirken durch einen hindurch, sind nicht beherrschbar, sondern verlangen mitwirken.
Werdendes Leben zeigt seine Bedeutung im All als nichtendes Wirken. Nichtendes Wirken bestimmt den Grund der Wahrheit. Wahrheit heißt jenes Wissen, das mit dem Sein eins wurde. Eins mit dem Sein bist du dann, wenn alle deine Laster und Lieben, Dinge und Befürchtungen, Schmerzen und Freuden ihren Platz im Ganzen gefunden haben.
Werdendes Leben weist auf den Ursprung und den Urgrund, denen das Wesen im nichtenden Wirken entspringt, wo alles Angehäufte sofort integrierender Teil wird und seine Eigenmacht verliert. Dies ist der Grund der Wahrheit, dass nicht falsches Künstliches mehr dem Wesen anhaftet. Das Wissen ist Teil des Seins geworden, das Wesen wird zur Mitte des Kräftenetzes. Darum sind alle Eigenschaften, die freudvollen wie die leidvollen, zu einer Richtung gegliedert.
Der Tag der Wirklichkeit ist gekommen, an dem die Offenbarung fortschreitet. Der Himmel ist nicht anders als die Erde: Überall sind Erscheinungen, Probleme, Dinge und Wesen gleich. Manchmal sind sie dunkler, manchmal leuchtender. Wie sie auch scheinen, die Richtung geht von dunkel zu hell. Das Dunkel ist der Grund, das Hell das Ergebnis. Was du auch tust, niemals kannst du ganz im Hellen sein. Auch ich lebe aus dem Dunkel heraus, denn dunkel ist die Wurzel der Liebe.
Ein Schleier verhüllt die Gesamtheit des All vor dem kleinen Bewusstsein. Wird dieser weggezogen, erscheint als Richtung die Bewegung von dunkel zu hell, die keinen Gegensatz bilden, sondern die Urbewegung des nichtenden Wirkens, des Wegs zur Vollendung bilden.
Der Mensch verlangt die Befriedigung seiner Wünsche: Das ist kein Laster, sondern tatsächliches Anliegen aller. Wer dies nicht anerkennt, bleibt in der Vorstellung. Ohne Grund gibt es keinen Bau, ohne Liebe keine Verwirklichung.
Die falsche Geistigkeit fordert Verleugnung der Triebe, ist lebensfremd und feindlich; manche traditionelle Spiritualität hat sich in ein steriles Erstarren geflüchtet, das aber bereits erschüttert wird und nur noch jenen Scheinsicherheit bietet, die in ihren Scheuklappen und Brillen verharren; sie schließen sich selbst vom Strom der Liebe ab, die den Körper ebenso erfasst wie den Geist, die Erde wie den Himmel.
Das Wasser fließt nach unten — so verlangt alles Gefühl Ausgleich und Ebenmaß. Das Feuer brennt nach oben — der Wille bleibt auf die Erfüllung gerichtet. Die Luft breitet sich aus — das denken wird allem zuteil, ist in Resonanz mit Wirklichem. Und die Erde verlangt Arbeit, das Empfinden lohnt die Mühe als Erfüllung der Schönheit.
Der Strom des nichtenden Wirkens aus dem Dunkel zur Helle wird durch die vier Elemente und Funktionen begreiflich: sie sprengen die verhärtete Vorstellung durch die Hingabe an ihr Eigengefälle.
Nicht gut und wahr, schön muss die Wirklichkeit werden. Wahrheit, Güte und Reinheit sind der Innenbau, Schönheit ist die Form, die allein der Kommunikation fähig wird. Was nicht vollendet ist, bleibt in sich verschlossen, erst in der Schönheit wird es mitteilbar. Und schön ist alles: Die Welt, das Dunkel, die Lichterstraße der Wesen, das Verhängnis einer Zeit, der Urgrund des Lebens, das selbstlose Tun, die Blume und der Stein.
Die Vollendung wird von der Erde gefordert, die Schönheit allein ist der Kommunion fähig, das Hässliche zeigt Wesenlosigkeit; desgleichen die sterile Vollendung, die auf Einzelne bezogen ist und des Zusammenhangs ermangelt.
Lasse deine Fülle aus dem Grund, dann steht dir die wahre Welt offen. Sobald du dich einschränkst, geht der Kontakt verloren. Darum ist es nicht gut, das Warten auszudehnen. Wer an sich selbst denkt, verliert seine Kraft. Alles wird in einen einzigen Strom münden, der erst jetzt in diesen Stunden seinen Fluss beginnt.
Die Bewegung hat begonnen. Wer rationalisiert und spart, gleicht einem Menschen, der auf einem steuerlosen Boot in dunkler Kabine auf einem Strom treibt und sich eigenmächtig dünkt, bis er zerschellt. Erst heute — dreizehn Jahre später — ist die Mächtigkeit dieses Stromes spürbar geworden.
Halte Ausschau nach Zeichen, sie werden dir unerwartet zuteil. Der Körper ist nicht dem Geist untertan, sondern der Geist ist der Kontakt zu anderen Körpern. So liebe den Körper, dann hast du den Geist, und die Seele schwingt in der Freude im Zusammenklang mit all jenen, die das innere Zutrauen zu sich und zu mir gewonnen haben.
Der Körper ist der Hort des Ich, der Geist ist allbezogen und die Seele schwingt im Zusammenklang: drei Aspekte des Wesens. Erst die Vereinigung der Drei führt zur Teilhabe am Menschen im All; die Dreifaltigkeit meint nicht Gott, sondern den Menschen.