Schule des Rades

Arnold Keyserling

Gott · Zahl · Sprache · Wirklichkeit

2. Erfahrung und Offenbarung

Empfinden

Die äußere und innere Welt wird in ihrem Sosein über die Sinne wahrgenommen. Nach außen zu oder von außen herein vermitteln sie Erfahrung, nach innen zu oder von innen heraus Offenbarung. Erfahrung bedeutet wahrnehmen und gestalten des Gegebenen, Offenbarung Vision und Ansatz der Verwirklichung. Die äußere Welt ist entropisch in der dissipativen Ordnung. Die innere Welt ist negentropisch; sie ist kosmisierend als Zugang zur Möglichkeit und damit zum Aufbau. Die äußere Welt ist Yin, linear zu verstehen, die innere Welt Yang, kreisförmig zu begreifen. Die äußere lässt sich durch die Chakras in ihrer Vielfalt erkennen, wie sie der Hatha-Yoga beschrieben hat, und die innere durch das Rad, die Raum und Zeitkomponenten in Bezug auf eine Mitte.

Im Empfinden und im Geist richtet sich das Bewusstsein auf die Sinnesgegebenheiten als Tore zur körperlichen Wirklichkeit und geistigen Möglichkeit. Daher muss hier der Ansatz der Sprache gefunden werden — er entspricht der Ebene der Affekte in der Sprachentfaltung.

Yang, rechts, wird durch die Sonne symbolisiert; Yin, links durch den Mond. In der Sonne stirbt man; im Mond wird man jeden Monat neu geboren und zwischen zwei Monden weilt man in der Regeneration des Nichts, der Null, der reinen Aufmerksamkeit. In allen Kulturen bedeuteten die drei Nächte, da der Mond nicht sichtbar ist, also der Neumond, die Zeit der Heilung.

Empfinden und Geist zeigen uns das, was gegeben ist. Doch kann ich die Wirklichkeit nur empfinden, wenn ich die Vorgänge kenne, die physiologisch der Sinneserfahrung zugrundeliegen.

Sinn
7  sprechen
6  lesen
5  tasten
4  hören
3  schmecken
2  riechen
1  sehen
Chakra
Geist
Seele
Körper
wollen
fühlen
denken
empfinden
Entsprechung
Großhirn
limbisches System
Stammhirn
Kreislauf
Stoffwechsel
Atmung
Bewegung

Die erste Wirklichkeit des Empfindens hat ihren Schwerpunkt im Wahrnehmen der Strahlungsenergie im Sehen, das aller Vorstellung zugrundeliegt und damit auch aller Handlung. Im Sehen wird die innere Leere als Aufmerksamkeit tragend mittels der zwei Sehweisen: die fokale, die auf einen Punkt gerichtet ist und diesen vereinzelt und herausnimmt, und die periphere, die in die Unendlichkeit schaut und das All wahrnimmt. Wirklich sehen zu können, bedeutet in der Aufmerksamkeit zu sein und damit die anderen Sinne zu koordinieren, sie als Teil einer Gestalt, eines Bildes zu erleben.

Riechen unterscheidet nach vier Richtungen, die den vier Elementen, Feuer, Erde, Wasser, Luft entsprechen. Es ist aus der Atmung gesteuert. Diese schafft in den drei Welten, der körperlichen, seelischen und geistigen — der Bauchatmung, der Flankenatmung und der Schlüsselbeinatmung die Fähigkeit, auf allen drei Gebieten zu wirken und im Denken dem Organismus genügend Energie verfügbar zu machen.

Im Schmecken wird die Welt dreifältig integriert — über Kohlehydrate, Fette und Proteine und nach vier Geschmacksrichtungen unterschieden: sauer, süß, salzig, bitter. Das Empfinden beobachtet die Einzelheiten als Teil des Ganzen. Das Denken entfaltet sich durch seine Verbindung mit der Atmung im Wechsel von Ein und Aus, Inspiration und Expiration, die in vielen Sprachen synonym mit geboren werden und sterben gebraucht werden, das Fühlen aber unterscheidet zwischen Assimilation und Ausscheidung, versucht zwischen beiden durch die inneren Signale das Gleichgewicht zu halten.

Wollen vollzieht sich in der Zeit. Sein Sinn ist das Hören, das über Intervalle Töne, also Wirkkräfte, in Entscheidung und Wahl zusammenfasst oder trennt. Als Mitte der Chakras im Herzen steht es dem Gewahrsein der natürlichen Zahl gegenüber. Seine Bewusstheit ist der Tiefschlaf, während der Stoffwechsel über den Traum eingreift und das Empfinden nur dem Wachen zugänglich ist. Der Blutkreislauf zwischen Diastole und Systole belebt den ganzen Körper, sodass kein Teil ausgelassen ist.

Der Tastsinn des Körpergewahrseins ist unästhetisch, wirkt über Druck nach außen und über die propriozeptiven Nerven des Stammhirns nach innen. Er kann den ganzen Körper bewusst machen, ihn unästhetisch befreien. Er geht über den Leib hinaus, kann andere Gegenstände einbeziehen wie etwa der Skifahrer seine Ski, ja sich bis ins All erweitern.

Der Sinn des Lesens hat die Fähigkeit, eine seelische Bedeutung und Beziehung zu erfassen, die über den Einzelnen hinausgeht. Die Bedeutung steht in Beziehung zur sechsfältigen Gemeinsamkeit der Urfamilie, die Selbstrechtfertigung ist das Motiv. Ich kann nur das lesen, was mich in Lust und Schmerz, den beiden Richtungen des limbischen Systems, berührt.

Im Sprechen wird die Imagination des Großhirns nicht nur angeregt, sondern aus der Vorstellung in ein geistiges Gefüge verwandelt, das der Tätigkeit in der Welt einen Sinn gibt. Dies geschieht wiederum im Wachen; man muss sich des Zusammenhangs bewusst sein, wie etwa Menschen sich mit Institutionen identifizieren und in ihnen ihren Sinn finden.

Der Körper wird aus der Sehnsucht des Stammhirns nach Ganzheit, die Seele aus der Selbstrechtfertigungstendenz des limbischen Systems und der Geist aus dem dauernden Fluss der Inspiration gelenkt.

  • Im Wollen ist der Mensch zwischen Diastole und Systole des Blutkreislaufs,
  • im Fühlen zwischen Aufnehmen und Ausscheiden der Nahrung,
  • im Denken zwischen dem Ein und Aus der Atmung,
  • und in der Empfindung zwischen Ruhe und Bewegung.

Über die Ruhe stehen die sieben Chakras in Beziehung zum Gewahrsein, das von außen den Körper beeinflusst. Die acht Konstituenten entsprechen den Raumrichtungen und aus der raumzeitlichen Verknüpfung der Bereiche und Funktionen entsteht der Kreis der Vision, das Bild des Großen Menschen, dem alle möglichen Intentionen entstammen.

Arnold Keyserling
Gott · Zahl · Sprache · Wirklichkeit · 1987
Die kabbalistischen Grundmächte des Seins
© 1998- Schule des Rades
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