Schule des Rades
Arnold Keyserling
Gott · Zahl · Sprache · Wirklichkeit
2. Erfahrung und Offenbarung
Geist
Die Erfahrung der Sinne hatte in der Entwicklung der historischen Sprachen eine untergeordnete Rolle. Auf deutsch wurde das Empfinden der Sinne vom triebhaften Fühlen erst seit 1840 unterschieden. So ist jene Ordnung der Sprache nach den Sinnen heute noch ein philosophisches Anliegen, dem sich vor allem die Wiener Schule gewidmet hatte.
Ernst Mach erklärte, nur jene Mathematik sei sinnvoll und wirklich, die die Sinne erfahren, wie die Geometrie über das Auge, und die Arithmetik durch die Tonverhältnisse über das Ohr wahrgenommen wird. Im indischen Yoga, der die Chakras zum Ansatz der Welterfahrung machte, war die ergänzende Sprachphilosophie Samkhya, was richtige Klassifikation bedeutet. Wir drücken uns in diesem Buch in der Umgangssprache aus, weil diese laut Wittgenstein als einzige dem gewöhnlichen Bewusstsein zugänglich ist. Darum ist die Ordnung der Wirklichkeit der Prüfstein des Wortschatzes; was nicht irgendeinen sinnlich wahrnehmbaren Aspekt hat, ist in Gefahr, anstatt die Wirklichkeit zu spiegeln, einen ideologischen Überbau zu schaffen.
In der Kabbala war das Maß der Vision einerseits die Jakobsleiter, die die Sinneserfahrung zum Himmel fortsetzt, und andererseits die Vision des Rades in der Merkaba-Mystik, die auf der Schau des Hesekiel beruht. Gleichzeitig mit der Wiener Schule gab die Phänomenologie von Edmund Husserl den Ansatz, um auch die Ebene der Vorstellung aus dem Meinen in das Verstehen zu überführen.
Die Inhalte der Vorstellung sind aus den gleichen Sinneselementen gefügt wie die Beobachtungen des Empfindens. Beim Hören erlebe ich einen Ton als Diesda
. Um ihn zu verstehen, muss ich ihn in die Vorstellung einordnen, die alle Töne gesetzlich umfasst — Quintenzirkel, Obertöne, Untertöne, Slendroskala, im Rahmen des Hörbereichs. Diese Einordnung in das natürliche System der Töne ist der Akt des Verstehens. Mit allen anderen Sinnen verhält es sich analog; so werden die Farben des Regenbogens durch die Hinzufügung des Purpur als Vereinigung von rot und violett bei den Lichtfarben zum Kreis geschlossen. Sämtliche Systeme der sinnlichen Erfahrung schließen sich auf der Ebene der Fläche, die als einzige rational zugänglich ist, zum Rad zusammen, wie wir es eingangs beschrieben.
Ich habe selbst die Merkaba-Vision 1943 erlebt, sie gab mir die persönliche Gewissheit der Möglichkeit des Verstehens, gleichsam einen Sprung des Bewusstseins zu einer neuen Ebene. Für die Kabbalisten war es selbstverständlich, dass die inneren Visionen die gleiche Wirklichkeit besitzen wie die äußeren Erfahrungen. Dank Ernst Mach als Pionier des sinnlichen Verstehens und Edmund Husserl als jener der phänomenologischen Systemik können wir nun den entscheidenden Schritt vollziehen, den Geist genauso wahrzunehmen als Feld der Möglichkeit wie die sinnliche Erfahrung.
In der sinnlichen Erfahrung sind die Qualitäten gegeben und wir begreifen sie durch ihre mathematische Auseinanderlegung nach Maß und Zahl, Geometrie und Arithmetik, Raum und Zeit. In der Offenbarung dagegen, der inneren Wahrnehmung, sind Räume und Zeiten als Möglichkeit gegeben und die Verwirklichung ist durch den Menschen zu schaffen. So verstehen wir im Rad Entropie und Negentropie: die Welt der Erfahrung ist entropisch, die Welt der Offenbarung negentropisch, und das sprachliche Verstehen bildet die Brücke zwischen beiden. Wir werden sie nun von den Chakras aus bestimmen.
Die ersten vier Chakras sind zeithaft, die weiteren drei raumhaft. Werden diese Sieben nun zur Dauer, zum raumzeitlichen Erleben, so ergeben sich als Rahmen aller Vorstellung zwölf Inbegriffe, unter die sämtliche Entscheidungen des Gewahrseins als deren Sinn fallen müssen. Sie werden durch die Gegensätze verständlich:
I
II
III
IV
V
VI Seele-wollen
Körper-empfinden
Geist-denken
Seele-fühlen
Körper-wollen
Geist-empfinden VII
VIII
IX
X
XI
XII Seele-denken
Körper-fühlen
Geist-wollen
Seele-empfinden
Körper-denken
Geist-fühlen
Seele-wollen bezieht alles auf das Ich, die Person, Seele-denken auf das Du und die Gemeinschaft. Körper-empfinden hat seinen Schwerpunkt in Gestaltung und Besitz, Körper-fühlen in Einsatz, Enthaftung und Kampf. Geist-denken hat als Schwerpunkt lehren, lernen, forschen, Geist-wollen Geschichte und Offenbarung. Seele-fühlen bestimmt den Bereich der Familie, Seele-empfinden jenen des Berufs. Körper-wollen zeigt Meisterung, Selbstausdruck und Spiel, Körper-denken Zivilisation und Technik, aber auch die Beziehung zu Freunden. Geist-empfinden ist die Welt der werteschaffenden Arbeit, Geist-fühlen jene von Medizin und Regeneration.
Alle bestehenden Kulturen sind aus Teilen dieser Weltbegriffe aufgebaut, und vergessen sie ein Gebiet, so ist das Ergebnis eine Erschwerung für den Einzelnen, seine Mitte zu finden.
In der Kabbala sind die zehn Sefiroth, die Ziffern als natürliche Zahlen, die Träger möglichen Sinns. Chakras und Rad prägen in der Dimension des Wachens den Wortschatz. In der heutigen Entwicklung wird dieser immer mehr der äußeren Erfahrung und inneren Offenbarung angenähert. Beim Rad handelt es sich darum, den Raster vorwegzunehmen, also Ausschau zu halten, in welchen der Inbegriffe eine Erfahrung oder Offenbarung fallen könnte. Die Offenbarung ist also deduktiv, und ihre Kriterien sind die widerspruchsfreie Konstruktion des Rades. Für die Kabbalisten war die Tradition der Prüfstein; für uns hingegen ist die Zweiheit von Erfahrung und Offenbarung als Abstimmung auf unmittelbare Gegebenheiten des Bewusstseins die Voraussetzung, um sich der Sprache tiefer zu bemächtigen.