Schule des Rades
Arnold Keyserling
Gott · Zahl · Sprache · Wirklichkeit
3. Laute und Sprachen
Sprachen
Gegenpol der Laute sind die Sprachen, von denen es unzählige Ausprägungen gibt, allein in Afrika über achthundert. Jede von ihnen hat eine andere Zielrichtung, die aus der Etymologie, aus der Geschichte und der Wortschaffung entsteht. Auf deutsch etwa stehen die Wurzelverwandtschaften im Vordergrund, bei den Kabbalisten die Mitlautfolge, bei denen sämtliche Vokalisierungen als einem Sinn zugehörig betrachtet werden.
Aber Überlieferungen sind gebahnte Wege nach innen. Somit sind die Sprachen letztlich Ausdrücke der Möglichkeit aller Kultur im immanenten Bild des Menschen im All, wie er im Tierkreis symbolisiert ist.
Solange die Sprachen in einem geschlossenen Kulturkreis herrschten, wie etwa die Griechen alle nicht-Griechen als Barbaren mit unverständlichen Lauten bezeichneten, konnte die Kultur eines Landes sich tatsächlich durch die Leistungen hervorragender Einzelner ausdrücken und fortsetzen lassen. Doch in einer Welt, in der die Kommunikation immer mehr zur Grundlage von Staat und Gesellschaft wird, wird diese Spracheinheit durchsprengt, sosehr auch die Franzosen etwa über das heute übliche franglais klagen. So wachsen wir in eine Sprachebene hinein, deren unterste Schichte die Wirklichkeitsentsprechung ist, die wir im vorigen Kapitel beschrieben. Doch auf dieser bauen sich zwölf Sprachen auf, die im Tierkreis vorgebildet, in keiner der Sprachen der Tradition ausgedrückt werden können.
Strategisches Denken hat seinen Ausdruck in der Bildung bedingter Reflexe, ist also physiologisch zu begreifen. Doch die geistige Wesenserinnerung, die als einzige zum Sinn führt, hat ihren Ursprung in den Inbegriffen des Rades, die in ihrem gesellschaftlichen Ausdruck folgende Gegensätze zeigen:
I
II
III
IV
V
VI Politik
Kunst
Wissenschaft
Psychologie
Erziehung
Wirtschaft VII
VIII
IX
X
XI
XII Recht
Krieg
Religion
Staat
Philosophie
Medizin
Die Yin-Grundlage des Denkens sind die Buchstaben in ihrer Bedeutung, die waagrechten Konsonanten und die senkrechten Vokale. Die Yang-Grundlage der Seele ist das Rad mit seinen zwölf Zivilisationsgebieten, die aller Gemeinschaftsbildung zugrundeliegen. Die Erinnerung und die Erwartung greift aber nur dann bis zum Wesensgrund, wenn jedes der Gebiete auf die Sehnsucht geeicht ist, von der Ichbezogenheit zur Allbezogenheit durchzustoßen.
Norbert Elias hat in seiner Geschichte der abendländischen Zivilisation
deren Triebfedern im Streben nach Selbsterhaltung und Arterhaltung verdeutlicht. Während die asiatischen Kulturen ein gleichsam platonisches Bild einer Vollendung haben, so wie etwa die Bath-Partei Syriens oder der Fundamentalismus Persiens auf den gesellschaftlichen Zustand zu Zeiten des Propheten zurückgreifen, entwickelt sich das Abendland dynamisch auf eine immer größer werdende Vergesellschaftung hin. Wahrscheinlich ist der Ursprung dieses Antriebs in der kabbalistischen Vorstellung des Messianismus zu suchen, dass nämlich die normale Gesellschaft eine Rückkehr zum Paradies bedeutet.
Niemals haben die Juden den Messias als Vertreter größerer Innerlichkeit verstanden, wie vor allem die protestantischen Christen. Die Menschlichkeit wird erst erreicht, wenn kein falscher Gott mehr den Zugang zum Menschen im All in einer zu begrenzten Gemeinschaft verstellt. Kennzeichen aller Gemeinschaften dieser Art war die Tatsache, dass sie andere nicht-Zugehörige als Untermenschen betrachteten und sich wie zuletzt die deutschen Nationalsozialisten berufen glaubten, zu deren Ausrottung.
Der Selbsterhaltungstrieb im Abendland äußerte sich in immer größerem Reichtum der Berufsmöglichkeit und der Persönlichkeitsentfaltung. Er fand seinen letzten historischen Ausdruck im Bürgertum und geht in der Gegenwart auf die Arbeiterschaft über. Der Arterhaltungstrieb äußerte sich im Ideal der Menschlichkeit, vom honnête homme über den Höfling bis zur Zivilisation, zur Verfeinerung der Sitten des Zusammenlebens, wie sie seit jeher Anliegen des Adels war. In der verwalteten Gesellschaft schwindet bei den politischen Parteien die Dynamik, und sie ist nur noch im akademischen Leben gefordert, wo eine Doktorarbeit etwa eine originelle Leistung sein sollte. Im heutigen Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft, wo der Akzent auf lehren und lernen liegt, kann keine traditionelle Kultur und Sprache mehr eine Richtung geben, sondern deren Vertreter erweisen sich als Hemmschuh auf dem Durchbruch zur Geistigkeit. Die im folgenden zitierten Grundbegriffe sind Ansätze einer neuen Sprachwerdung, die sich erst in der Zukunft entfalten wird.
Dem äußeren Anschein nach leben wir immer noch in Nationalstaaten, auch Amerika und Russland bilden davon keine Ausnahme, was sich etwa darin äußert, dass die Amerikaner die Italiener oder Juden als Subkultur definieren und den angelsächsischen Standard als einzigen für verbindlich erachten, und dass für die Russen der Nationalismus einzelner Völker ihres Reiches das zu bekämpfende Übel ist. Diese Auseinandersetzung ist politisch nicht zu lösen, sondern nur durch eine Bewusstseinswandlung, indem nämlich die Kulturen ihren Wert als Mutterboden dichterischer Entwicklung verstehen und ihre Eigenmächtigkeit immer geringer wird. Für die heranwachsende Generation ist das planetarische Bewusstsein schon selbstverständlich. Die heute herrschende Gruppe kann über die Feindbilder noch nicht hinausschauen. Deshalb kann es nur das Bestreben sein, einerseits den Unsinn der Feindbilder aufzuzeigen und langsam an der Schaffung einer Welt zu arbeiten, in der die zwölf Zivilisationsgebiete die tatsächlichen Parameter werden.
In der Psychotherapie kann die Einseitigkeit körperlich in der freudschen Analyse, seelisch in der adlerschen Erkenntnis der Minderwertigkeit und geistig in die Wiederherstellung der integrativen Funktion des Traums im Sinne Jungs überwunden werden. Doch in der Gesellschaft werden die Verfallenheiten zu einander bekämpfenden Richtungen: der auf Leistung des Empfindens gerichtete Kapitalismus, der auf dem Fühlen der sozialen Ungerechtigkeit gründende Kommunismus, die aus dem Denken gespeiste Technokratie, und schließlich der auf dem Wollen, auf der Tradition begründete Fundamentalismus. Sie alle verbannen ihren Schatten in ein Feindbild, dessen Bekämpfung den Sinn ihrer Existenz verstärken soll.
Die messianische Vorstellung einer vollendeten Gesellschaft auf der Erde, die von den Vertretern aller vier einseitigen Richtungen verkündet wird, hat die Einseitigkeit so sehr vorangetrieben, dass eine Integration auf Weltebene nicht mehr möglich zu sein scheint. Sie kann nur über den Durchbruch zu einer neuen Bewusstseinsebene von einzelnen Menschen erreicht werden, deren Zusammenarbeit oberhalb der Gegensätze vielleicht die Pfeiler der neuen Zeit bilden wird. Es genügt dazu, jedesmal die Richtungen durch ihren Gegensatz auszugleichen: wollen durch denken, fühlen durch empfinden; bewusst den gegenüberliegenden Zusammenhang zu fördern, um in die Mitte zu kommen.
Bereits im Sohar steht, dass die dort angeführte Zahlenentsprechung aus Gründen der Geheimhaltung nicht die richtige sei. Unsere Ordnung ergibt sich aus dem Rad.