Schule des Rades

Arnold Keyserling

Gott · Zahl · Sprache · Wirklichkeit

4. Motivation und Intention

Welt des Mythos

Die vierte Sprachebene von Körper und fühlen ist die des Traumes, des Märchens und des Mythos, in jungscher Sprache jene des persönlichen und kollektiven Unbewussten. Sowohl in der deutschen als auch in der jüdischen Überlieferung war der Mythos ausgespart und bekämpft worden.

Bonifatius nahm im Gegensatz zu anderen Christianisierungen die germanische Überlieferung nicht auf, weswegen der germanische Mythos der Wotans — Herrschaft — dass der Sieg in der Schlacht die Übereinstimmung mit Gott erweist — in die Katastrophe führte. Seine Vertreter im deutschen Nationalsozialismus hatten ein vollständig gutes Gewissen. Ist das deutsche Volk heilig und bildet es die Substanz jedes Deutschen, so müssen in den Worten Alfred Rosenbergs letzte Endlichkeiten wie Blut und Boden, Brauchtum und Sitte, Volk und Rasse den absoluten Wert darstellen. Ist dagegen wie auf jüdisch die Erlösung dem auserwählten Volk vorbehalten, das in seiner Kabbala die Offenbarung besitzt welches aber keine weltliche Macht hat, so kann der Sieg oder die Befriedung nur durch eine kosmische Katastrophe, durch das Jüngste Gericht und den Messias, der das Reich Gottes in der Welt errichtet, gewährleistet sein.

Beiden Weltanschauungen fehlt die Ebene des echten Mythos, die freie Bilderwelt, und auch der Ethos, der den Menschen im römischen Sinn für alles verantwortlich macht, was anderen schadet. Es war die große Leistung C. G. Jungs, die Ebene des Mythos als Wirklichkeit der Seele zu bestimmen und in den ERANOS-Tagungen dieses Material als Grundlage aller Religionsforschung zu erkennen und damit zugänglich zu machen. Germanisches Heldentum ohne Sinn, wie bei Hagen im Nibelungenlied, ist auf eine nebulöse Vorstellung gerichtet, und geht in der Götterdämmerung zugrunde. Der kabbalistische Messianismus greift tiefer. Es sollen magische Mittel dazu verwendet werden, das Ende des Leidens und die Rückkehr nach Israel zu beschleunigen.

Martin Buber hat dies in seinem Roman Gog und Magog veranschaulicht. In gewisser Weise hat der Marxismus versucht, das Drama des Messianismus von der Zeit in den Raum zu überführen; an die Stelle des Jüngsten Gerichts trat die Weltrevolution, wo die klassenlose Gesellschaft das Neue Jerusalem verwirklicht. Doch wenn kollektive Organismen wie Judentum und Deutschtum in Gegensatz treten, ist die Katastrophe unausweichlich, wie die Germanen in ihrer Lehre von Licht- und Dunkelwaltung und die Juden in den beiden Gesichtern der Schechina als 10. Sefira veranschaulicht haben. Tatsächlich hat der letzte Weltkrieg eine Wandlung des Bewusstseins verursacht, der Einzelne ist zum Subjekt der Geschichte geworden.

Der kosmische Kampf zwischen gut und böse ist eine falsche psychische Projektion; er muss in die fruchtbare Komplementarität von ichbezogen und allbezogen verwandelt werden. Hierzu ist es notwendig, die Eigengesetzlichkeit der mythischen Sphäre zu begreifen, die keine psychische Projektion ist, sondern die Bindeglieder zum Wollen als fünfter Sprachebene bestimmt. Der Inhalt der Mythen ist die Welt der Archetypen als Träger des kollektiven Unbewussten, welche hinter dem persönlichen Unbewussten alle jene Handlungen zeitigen, die Menschen jenseits ihres Selbsterhaltungstriebs zu Taten mitreißen.

Die kabbalistische Merkaba-Mystik mit ihren Himmelsreisen war dem Suchenden über bestimmte Übungen zugänglich: der Adept legte nach langem Fasten seinen Kopf zwischen die Knie und begann seine Vorstellungsreise in den Himmel, wobei er die Stufen der Sefiroth als Leitfaden benützte. Dies war seit jeher die Arbeit der Schamanen, die imstande sein mussten, mit der Oberwelt und Unterwelt zu verkehren und von dort Hilfe und Rat zu erreichen.

Jedem begegnet die Welt des Mythos über die Struktur seiner sprachlichen Offenbarung im Rahmen seiner intimen Vorurteile. Doch das heißt nicht, dass sie nicht einen Eigencharakter hätte, der durch die pythagoräische und kabbalistische Zahlenmystik entschlüsselt werden kann.

Die Seele sehnt sich nach Rechtfertigung: in den zwölf Zivilisationsgebieten werden Entfaltung und Zerstörung, Hingabe und Egoismus offensichtlich. Der Mensch wird dieser Hingabe nur fähig, wenn er seine Motivation erkennt und sie in eine allbezogene Intention verwandelt. Die Motivation hat ihren Schwerpunkt im Fühlen und seinen vier Trieben. Die Intention ist dem Körper zugeordnet, dessen Glieder immer neue Vollendungen anstreben, bis der kinästhetische Körper als Bewusstheit des Leibes über den Traum als Teil des Menschen im All, als Vollendungssehnsucht begriffen wird. Die Kabbalisten sagen: Ich habe nur einen Arm, insoweit ich am Arm des Großen Menschen teilhabe.

Die Verbindung zwischen fühlen und Körper sind die neun Impulse, die durch Planetentriaden verbunden werden und entweder als Wunde, als Triebverfallenheit, oder als Schwert, als Mitwirkung am Reich Gottes zu verstehen sind.

In der Vision des Traumes haben die Ziffern und die Null viele Bedeutungen. So zählt Abraham Cohen Herrera in seinem Buch Die Himmelspforte folgende verschiedene Aspekte der Sefiroth auf. Sie sind:

Spiegel seiner Wahrheit und Analogien seines erhabensten Seins; Ideen seiner Weisheit und Repräsentationen seines Willens; Behältnisse seiner Kraft und Instrumente seiner Tätigkeit; Schatzkammern seiner Seligkeit und Verteilerinnen seiner Gnade; Richter seines Reiches, die seinen Richterspruch ans Licht bringen, und zugleich auch die Bezeichnungen, Attribute und Namen jenes, der der Höchste von allem und die Ursache von allem ist.

  • Zehn unauslöschliche Namen;
  • zehn Attribute seiner erhabenen Majestät;
  • zehn Finger seiner Hände;
  • zehn Lichter, in denen er sich selber ausstrahlt, und
  • zehn Gewänder, mit denen er bekleidet ist;
  • zehn Visionen, unter denen er erscheint;
  • zehn Formen, unter denen er alles geformt hat;
  • zehn Heiligtümer, in denen er verherrlicht wird;
  • zehn Grade der Prophetie, durch die er sich manifestiert;
  • zehn Katheder, von denen aus er lehrt,
  • zehn Throne, auf denen er die Völker richtet;
  • zehn Abteilungen des Paradieses für die, die dessen würdig sind;
  • zehn Stufen, auf denen er hinabsteigt und auf denen man zu ihm aufsteigen kann;
  • zehn Lager, die allen Influxus und Segen produzieren;
  • zehn Zwecke, nach denen alles Verlangen trägt, die aber nur die Gerechten erreichen;
  • zehn Lichter, die alle Intelligenzen erleuchten;
  • zehn Arten von Feuer, die alle Begehren auslöschen;
  • zehn Arten der Glorie, die alle vernünftigen Seelen beseligen;
  • zehn Worte, durch die die Welt geschaffen wurde;
  • zehn Geister, durch die sie bewegt und am Leben erhalten wird;
  • zehn Zahlen, Maße und Gewichte, durch die alles gezählt, gewogen und gemessen wird;
  • zehn Prüfsteine, durch die die Vollendung aller Dinge geprüft wird;
  • zehn Kategorien, in denen alles enthalten ist…

Bei den Griechen war die Welt des Traumes und der Vision das freie Spiel der Mythen, die nur im Drama gefasst werden können. Ein Ursprung dieser Mythen war ihnen nicht vorstellbar. Für die Kabbalisten dagegen sind die zehn Sefiroth, denen alle Mythen entstammen, die Namen Gottes.

Arnold Keyserling
Gott · Zahl · Sprache · Wirklichkeit · 1987
Die kabbalistischen Grundmächte des Seins
© 1998- Schule des Rades
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