Schule des Rades
Arnold Keyserling
Gott · Zahl · Sprache · Wirklichkeit
5. Sinn und Bedeutung
1 - Tifereth - Bindewort
Eins bedeutet das Kleinste und das Größte zugleich: es ist die Zahl. Das Urbindewort ist und: die Fähigkeit, das miteinander zu verbinden, was nicht in einem größeren Zusammenhang steht, wie etwa der Vater und die Familie. In der embryonalen Entfaltung ist dieser Ort die Befruchtung als Vereinigung von Eizelle, Same, Wesen.
In der Kabbala zeigt Gott dem Wesen sein künftiges Kleid
, das es in dieser Existenz zu vollenden gilt, vor der Befruchtung. Albertus Magnus erklärte mit diesem Bild den Sinn der Prädestination: Jedem Wesen sei seine höchste Möglichkeit eingeboren. Tifereth ist Charisma, die Fähigkeit des Heilens. Es bedeutet, die wahren Elemente zu erkennen, um sie dann in dichterischer Weise zusammenfügen zu können. Sobald ich einen Zusammenhang durch Bestimmung seiner Elemente begreife, kann ich ihn integrieren, zu meiner Einheit hinzunehmen.
Tifereth ist auch das Wort, der Name, der für einen bestimmten Gegenstand steht und ihn ins Gedächtnis rufen kann. Es ist also der Schaffer des Wortleibes. Im Grunde könnte es so viele Bindeworte geben wie Zahlenarten und Rechnungswege. In der Umgangssprache werden nur wenige gebraucht: oder — eine Wahl. Auch — der zweite Gegenstand ist daneben. Entweder oder — verstärkt das Oder, sowohl als auch das Daneben. Andere Beiordnungen sind: noch, zudem, außerdem, überdies, desgleichen, ferner.
Musikalisch besser zu begreifen sind die betonenden und hervorhebenden Bindeworte: aber, doch, sondern, nicht einmal, selbst; doppelt verwendet, einer Proportion entsprechend: zwar — aber, nicht nur, sondern auch. Einen Gegensatz betonend: nur, hingegen, dagegen. Kausal verstanden: folglich, mithin, also, darum, deshalb, obwohl, dennoch. Andere sind zeitlich: zugleich, gleichzeitig, unterdessen, mittlerweile, inzwischen; zuerst, nachher, darauf, sodann, später, demnächst, bald. Manche sind vergleichend: ja, sogar, vielmehr, selbst, namentlich.
In der Umgangssprache sind die Konjunktionen seit Jahrtausenden gebräuchlich. Ihre mathematische genaue Bestimmung ist erst in den letzten Jahrhunderten zum Anliegen geworden. Daher können wir heute die ganze Mathematik als Anwendung der Sefira Tifereth verstehen.
Wähle ich eine 1, dann identifiziere ich mich mit diesem neuen Zusammenhang. So entstehen die verschiedenen Gefühlsschwerpunkte, um die alles andere angesiedelt wird. Und doch ist das Ergebnis klar, gehört der Ebene der Heiterkeit zu, wie das in reinster Form die hölderlinsche Dichtung zeigt. Auch im religiösen Bekenntnis ist das Bindewort entscheidend. Im katholischen Beispiel: Ich glaube an Gott… und seinen eingeborenen Sohn und….
Die Zahl 1 entsteht dauernd aus der 0 und fällt in sie zurück. Der gefügte Zusammenhang höherer Zahlen ist wieder eine 1, ja jede Zahl wird dadurch definiert, dass sie eine Einheit irgendeiner Art darstellt, reelle und komplexe Zahlen nicht minder als rationale, ganze und natürliche. So ist die Welt der Zahlen klärend, sie schafft die Identität des Bewusstseins, und erkenne ich die zahlenmäßige, elementare Struktur einer Erscheinung oder eines Wesens, dann kann ich diesem auch heilend helfen, den Zusammenhang wieder auf seine Mitte zu eichen.
Fühlen ist die Welt des Traumes, worin Bilder frei zusammengefügt-werden können. Die tiefste Sehnsucht ist die Integration, wenn der kleinste Teil mit dem All und der Unendlichkeit verbunden sein will. Während also das Fürwort die Chakras öffnet, zeigt das Bindewort den Weg zum Verstehen der Schöpfung aus dem Nichts — weshalb auch bei den olympischen Göttern schließlich Zeus, die kosmische Entsprechung von Tifereth, zum obersten Herrn erwuchs.
Jegliches Wort ist eine Zusammenfügung von Lauten oder Zeichen. Was wir im zweiten Kapitel beschrieben haben, ist letztlich die Tätigkeit des Bindens und Trennens, wobei der erste Laut der Schrei und der Hauch ist. Im reinen Binden — Zeus bindet mit unsichtbaren Fesseln — ist der Mensch Gott gleich, erschafft aus der Imagination die Wirklichkeit. Doch um diese zu gestalten, muss die Intention mit wirksamen Motiven verbunden werden, deren Struktur das Verhältniswort offenbart.