Schule des Rades
Arnold Keyserling
Gott · Zahl · Sprache · Wirklichkeit
Einführung
Teilhabe an der Evolution
In vielen Religionen entsteht die Welt aus dem göttlichen Wort: in der Bibel, im Brahmanismus, in der Orphik. Im Mittelalter war im Universalienstreit die Frage nach der religiösen Bedeutung des Wortes das Grundproblem. Sind Worte wie im Realismus die Möglichkeit für den Menschen, am Geiste Gottes, den Worten als Schöpfungsprinzipien teilzunehmen, im Anschluss an das Johannesevangelium:
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort, und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns.
Oder sind es bloße Bezeichnungen für Dinge wie im Nominalismus, im Sinne des alten Testaments, dass Gott alle Wesen vor Adam führte, damit er sie benenne?
Vom heutigen Gesichtspunkt aus erscheint der Universalienstreit als gegenstandslos. Doch die Beurteilung wird anders, wenn wir darüber nachdenken, was für eine Folge der Standpunkt für den Begriff der Wahrheit hat. Für die Realisten ist die Wahrheit ein objektiv gegebenes Ganzes, an dem einzelne Denker mitarbeiten; in der Neuzeit die katholische Kirche, und in der Gegenwart der Marxismus. Für die Nominalisten ist die Wahrheit dagegen die verifizierte Meinung der größtmöglichen Anzahl unparteiischer Prüfer, wie es der amerikanische Logiker Peirce formulierte. So lässt sich der heutige Gegensatz zwischen Ost und West sprachlich auf den Universalienstreit zurückführen, und es ist kein Wunder, wenn die Versöhnung der gegensätzlichen Standpunkte heute noch unwahrscheinlicher erscheint als im Mittelalter. Denn damals wurde die Antwort linguistisch von Abaelard und Albertus Magnus gegeben:
Worte sind erstens Bezeichnungen im Sinne des Nominalismus, also Namen für Einzelheiten, universalia post rem; sie sind zweitens Gattungsbegriffe, nach deren Wesen sich die einzelnen Erscheinungen entfalten: universalia ante rem; aber sie sind drittens grammatikalische Formen, weder Namen noch Begriffe, die im Urteil über Sinn und Unsinn entscheiden: universalia in re, bei Abaelard der Konzeptualismus.
Diese dritte Auffassung, die die Sprache als eigene Welt betrachtet, gewann damals keine religiöse Bedeutung. Wir müssen uns daran erinnern, dass der Begriff Universität ursprünglich die Wege zu der einen Wahrheit bedeutete, uni-versus, dem Einen zugewandt, nämlich Gott und der Unsterblichkeit. Im Realismus war dies die Teilhabe am Geist Gottes über die Logik, wenn alle Erinnerungen auf die Ebene der überzeitlichen Wahrheit zurückgeführt sind; im Nominalismus, in der Nachfolge Augustins, stand die persönliche Bemühung des Menschen im Vordergrund, der immer sich bemüht und immer wieder scheitert. So hatte der Konzeptualismus keine Nachfolge.
Nur Ramon Lull nahm ihn in seiner Ars Magna auf, deren Gedanken ich anderwärts ausgeführt habe. Doch auch er wollte die Tafel der Begriffe, die er im Rad angeordnet hatte, nur zur Überwindung einseitiger Thesen verwenden, und verstand sie nicht als Teilhabe an der göttlichen Kreativität.
Meine Auffassung ist, dass die Sprache selbst in ihrer linguistisch-grammatikalischen Struktur den Durchbruch zur Befreiung des Menschen, zur religiösen Wiedergeburt und Teilhabe an der Evolution bringen kann. Ich bezeichne diese Auffassung als Zeugende Sprache: als Erkenntnis der rationes seminales, der logoi spermatikoi, der germinalen Urgründe.
Die Vorstellung einer kreativen Sprache gibt es nicht in der akademischen Philosophie, aber in vielen esoterischen Traditionen: dem Pythagoräismus, dem germanischen Futhork, der jüdischen Kabbala, dem verlorenen Wort der Freimaurer, dem Sacred Count der Indianer. Gewisse Bedingungen sind an seine Erkenntnis geknüpft, die eine existentielle Verwandlung verlangen, so wie Odin, sein rechtes Auge opfernd neun Nächte mit dem Kopf nach unten an der Weltenesche hing, um dem Raunen der Urquelle Mimir in ihren Wurzeln das Geheimnis der Runen abzulauschen.
Das Wort allein verbindet Diesseits und Jenseits für das Bewusstsein. Der Prophet Mohammed vernahm die Stimme des Erzengels Gabriel; die Schamanen sprechen mit Göttern, Geistern und Toten, Gitta Mallasz mit den Engeln, und ich selbst höre die Stimme des Menschen im All. Aber so lange es nicht möglich ist die zeugende Bedeutung des Wortes rational zu verstehen — das physikalisch als Information in das Wechselverhältnis von Masse und Energie eingreift, also Kraft und Licht im Wort verbindet — bleibt die Sprache mythisch. Erst wenn die zeugende Sprache ebenso klar formuliert ist wie die Alltagssprache, oder besser gesagt, wenn die Alltagssprache in eine andere Dimension führt, dann wäre ein Zugang zur göttlichen Kreativität nicht nur dem genialen Menschen oder dem Propheten zugänglich, sondern jedem Suchenden, der das dazu notwendige Wissen erwirbt.
In der jüdischen Überlieferung ist Gott mit dem Menschen über das lebendige Wort vereint. Er ist gestaltlos und gestalthaft. Im Sprechen ist er Stimme und Vision: Vision einer Vollendung des Reichs, in welchem jeder seinen Platz hat, Malchuth oder Schechina; und über die Stimme hat der Mensch Teil an jenem Strom des Göttlichen, der durch ihn hindurchfließt und als Merkaba, als Mensch im All seinem Leben Sinn verleiht.
Der Mensch ist biologisch Tier und Pflanze. Er ist Pflanze, insofern seine Gestalt einen bestimmten Keim hat, den er in seinen Träumen und Visionen erkennt, also eine Gestalt; Tier in seiner instinkthaften Einordnung, indem er seine Stellung und sein Überleben für sich und seine Gemeinschaft im kosmischen Stoffwechsel findet. Aber beides ist noch nicht der Sinn seines Daseins: dieser entsteht, sobald er das Göttliche als Strom des Bewusstseins erlebt und darin eine ganz bestimmte Ausprägung, seinen Stil erfährt und verwirklicht.
Von der Triebhaftigkeit her entspricht beim Menschen die Pflanze dem Territorialinstinkt und das Tier dem hierarchischen Instinkt. Beide müssen befriedigt werden. Die humanistische Psychologie und die Bewusstseinsforschung der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass die traditionellen kulturellen Formen nicht die ganze Pflanzenhaftigkeit und Tierhaftigkeit einschlossen, aber dass das Wissen darüber vollständig sein könnte, wenn man Erziehung und soziales Leben im Einklang mit ihren Erkenntnissen verwandelte. Heute tritt als weiteres die Frage nach dem Sinn hinzu, den nur die Mitarbeit an der Entfaltung der Gattung, am Göttlichen vermitteln kann.
Anpassung und Wachstum sind beides äußere Parameter; Wenn ich nicht der tierischen Welt angepasst bin, dann kann ich mich auch nicht zu meiner pflanzlichen Gestalt, der Persönlichkeit entfalten. Sobald ich es aber bin, dann kann allein die Zielsetzung auf die Menschheit selbst mir den Weg zu meinem Sinn eröffnen. Diese Erkenntnis hat das amerikanische Postulat: think globally, act locally
am besten veranschaulicht. Solange aber für das act locally
keine Motivation besteht und keine Intention für das think globally
da ist, wird die Bemühung um das statische Weltgehäuse in die Stagnation und den geistigen Tod führen.
Der Christ baut eine Brücke zum Jenseits, der Moslem die Gemeinschaft der Gläubigen, der Buddhist zimmert ein Schiff, um den Fluss des Lebens mit seinen Nächsten zu überqueren. Doch der Mensch selbst muss in unserer Zeit Mitarbeiter der Menschheit sein, am großen Werk der Erde mitwirken, sonst kann er in der technologischen Gesellschaft seinen Sinn nicht mehr finden.
Die Sprache selbst ist das Medium der menschlichen Umwelt; es gilt sie daher aus der Rationalisierung und bloßen Kommunikation in diese Zielsetzung zu überführen. Hierzu muss das Wort aus seiner ideologischen Verfälschung gelöst und in die Verkörperung, die Fleischwerdung überführt werden: die Sprache muss zeugend sein.
Das Wort wird schöpferisch: es muss seine Funktion als ideologischer Überbau verlieren und die Wirklichkeit selbst ausdrücken. Hierzu gilt es als erstes, das Wort an die tatsächliche Verkörperung zurückzubinden: Wie lernt das Kind seine Sprache?
Vielfältige Forschungen haben den Weg der Sprachentfaltung ergründet. Doch will ich deren Ergebnisse jetzt vom Gesichtspunkt des Bewusstseinsstromes bestimmen. Das Wort ist die göttliche Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod. Es kann nur dann mit der Kindlichkeit verbunden werden, wenn die Schritte der Sprachentwicklung einsichtig sind.
Gott ist die Stimme, die spricht. Das Kind ist die Stimme, die schreit: das Bewusstsein erwacht nach der Geburt mit dem ersten Atemzug, wobei sich das Großhirn auf den äußeren Sauerstoff umstellt und aus dem wässrigen Milieu des Mutterleibs in das luftige übertritt.
- Die erste Stufe der Sprachentwicklung sind die affektiven Laute: gähnen, lachen, weinen und schreien. Sie entsprechen den späteren Funktionen, empfinden, denken, fühlen und wollen.
Gähnen ist Entspannung, bedeutet Öffnen des Empfindens; die synästhetischen Eindrücke verbinden sich. Dieser Affekt ist auch bei den Tieren zu beobachten, während die drei weiteren bei ihnen nicht auftreten. Im Gähnen wird der Zugang zum spontanen Ausdruck des Körpers gefunden.
- Die zweite Stufe ist die Entfaltung des Sprechens in den bedeutungslosen Lautassoziationen: die Erkundung des akustischen Milieus. Je reicher die Schallverbindungen sind, desto stärker wird die Assoziationsfähigkeit und desto komplexer die Intelligenz.
- Die dritte Stufe sind die Doppellaute. Nach der bloßen Nachahmung der Worte der Eltern und der Freude, sich im Schall wie der Fisch im Wasser zu bewegen, kommt es nun zur Trennung beider Großhirnhemisphären. Die Verbindung zwischen Ohr und Sprechwerkzeug ist auf beiden Seiten verschieden lang. Der eine Nerv ist direkt verbunden, der andere geht um das Herz herum und ist mit dem Vagus verknüpft. Der chemische Zeitunterschied beträgt eine Zehntel Sekunde. Hier entsteht die Bedeutung aus den Motiven des Fühlens. Die Anjochung der Visionsfähigkeit der rechten Hemisphäre an die Linke ermöglicht dem Kind, seine Wünsche in Doppellauten — Mama, Papa, Miamiam usw. — der Mutter zur Kenntnis zu bringen. Durch die Trennung zwischen rechts und links entsteht also die Kommunikation mit dem Ziel der Kommunion des Verstehens; die Möglichkeit, Triebwünsche auszudrücken und über die Verständigung ihre Befriedigung zu erleichtern.
- Im Affekt entfaltet sich das Empfinden, im Lachen und dem Lautsalat das Denken, im Doppellaut die Fähigkeit des Weinens und des Fühlens, das die Mängel offenbart. Der Schrei dagegen, senkrecht zu den beiden Hemisphären aus der Tiefe auftauchend bringt den Zorn und somit das Wollen als ersten Wesensausdruck des Ich. Das Kind spricht von sich in erster Person, es lernt ja und nein sagen. Doch in der Sprache ist dies die Stufe der Grammatik, deren Voraussetzung das Lesen, Schreiben und Rechnen ist. Kommunikation und Wissensbildung werden aufeinander abgestimmt. Ein Satz, der als Urteil richtig gebildet ist, wird erinnert, der Mensch tritt der Welt als ein Mehr gegenüber. Hier hat Descartes recht: jedes Urteil, das clare et distinete oder in kantischer Formulierung anschaulich und begreiflich formuliert ist, wird Teil des Wesens, das damit der neuen Öffnung fähig ist.
- Das Erlernen von lesen, schreiben und rechnen steht am Anfang der Schule. Die fünfte Stufe ist das Erlernen des Sprachschatzes. Dichter wie Goethe und Shakespeare kennen sechzigtausend Worte, der Durchschnittsmensch vier- bis zehntausend. Im Grunde ist die ganze Schulbildung Erkenntnis eines bestimmten Sprachschatzes, der sich im Gedächtnis verkörpert. Je reicher der Wortschatz, desto größer die Fähigkeit des Kommunizierens und der Selbstaktualisierung. Eigentlich kann nur der seinen Sprachschatz kennen, der auch andere Sprachen erlernt und dadurch die Grammatik und Syntax nicht nur unbewusst richtig gebraucht, sondern beherrscht.
- Mit dem Sprachschatz wird der Mensch in seiner Kompetenz zur seelischen Kommunion und Kommunikation fähig: die Sprache dient dem Handeln und dem Verkehr. Erst jetzt ist der Mensch Mitglied der Gesellschaft, lebt in Auseinandersetzung und Kompetition, und oft vergisst er über den Schwierigkeiten des Alltags die Rückbindung an die früheren Stufen der Sprache. Dies ist das entfremdete Bewusstsein, woraus kein Denken zum Strom des Geistes führt.
- Die siebte Stufe des Geistes ist die Inspiration: man erfährt den Sinn von außen, aus dem göttlichen Strom. Es gibt keine Kultur, die nicht aus einem Bild des Jenseits lebt. Alles seelische hat sowohl eine körperliche als auch eine geistige Komponente. Doch diese letztere lässt sich nicht konstruieren, sie ist nur der Inspiration zugänglich. Und doch lässt sie sich beschreiben, wie die vielen Mythen und Religionen zeigen. Nur eine einzige Tradition hat diese jenseitige Inspiration aus der Sprache selbst hergeleitet: die jüdische, mit deren Entwicklung wir uns nun befassen wollen.
1 Aleph
2 Beth
3 Gimel
4 Daleth
5 He
6 Waw
7 Sajin
8 Cheth
9 Teth 10 Jod
20 Kaf
30 Lamed
40 Mem
50 Nun
60 Samech
70 Ajin
80 Pe
90 Tsade 100 Kof
200 Resch
300 Schin
400 Taf
insgesamt
22 Buchstaben
Der Name Gottes ist geheim, besteht aus vier Buchstaben, 10-5-6-5, Jod-He-Waw-He, Zahlenwert 10 + 5 + 6 + 5 = 26, Quersumme 8, also die Zahl des Gesetzes bei den Indianern. Im dreizehnten Jahrhundert genügte das numerologische Schema nicht mehr, um Jenseits und Diesseits zusammenzufassen, und im Sohar wurde die Kabbala auf die natürlichen Zahlen, die Ziffern zurückgeführt.