Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das große Werk der göttlichen Hände

I. Teil:Die linke Hand des Mondes

1. Merkur

Die ursprüngliche Dreieinigkeit des Göttlichen ist für mich Urkraft, Urlicht und Urwort. Das Urlicht wird über die Sonne erlebt, die Urkraft über den Mond und das Urwort ist die Grundlage der Entfaltung im Leben auf der Erde, welche über dieses Dasein hinausreicht. Hinter dem Urwort steht der Einende Eine und eine vierte göttliche Gestalt ist entscheidend: der Mensch im All, das Urbild aller Religion, allen Strebens und allen Werkes. Wir sind als Menschen berufen, an diesem Werk als Mitarbeiter teil zu nehmen. Aber das können wir nur, wenn wir die einzelnen Schritte verstehen und im nacheinander integrieren.

Urlicht ist die männliche Gottheit, die uns über die Sonne zugänglich wird und die über alle Wesen strahlt, ob sie nun ihren Weg erfüllen oder nicht. Urkraft ist die weibliche Gottheit, die über den Mond und seinem Wechsel zwischen Fülle und Leere zugänglich wird, die jedem Wesen seine Eigenständigkeit verleiht. Urlicht steht zwischen hell und dunkel, Tag und Nacht, Wachen und Träumen. Urkraft steht zwischen Fülle und Leere, mit der Bewegung zur Fülle und zur Leere, dem Halbmond, und schließlich den drei Tagen der absoluten Leere jeden Monat, wenn der Mond nicht mehr sichtbar ist. Urlicht wird im Menschen als Sonne und Mann erlebt, Urkraft als Mond und Frau. Die Gefahr des Urlichtes ist der Tod, die Gefahr der Urkraft ist das wuchernde Leben. Beide für sich allein gelassen zerstören; nur zusammen helfen sie dem Menschen, sein Wesen anzujochen und aus dem Urquell des Einenden Einen Mitarbeiter des Menschen im All zu werden, dessen Bild uns außen und innen als der Tierkreis erscheint.

Den Weg zur Zusammenfügung zeigt der göttliche Bote Hermes, dessen himmlischer Ausdruck der Planet Merkur ist und dessen irdische Entsprechung die Halogene bilden. Er ist die Fähigkeit des Sehens in allen drei Weltbereichen: Makrokosmos, Kosmos und Mikrokosmos. Der Fehler der Alchemie war, dass sie vergessen hatte, dass der Mensch nicht Mikrokosmos sondern Kosmos ist, Vereinigung des Großen und Kleinen im Menschenbild: der Mensch im All hat unsere Größe.

Für das Sehen wird die Urkraft zum Feuer und das Urlicht bleibt Licht. Feuer entsteht durch Verbrennung, Licht entsteht durch Fusion von Wasserstoff zu Helium in der Sonne. So ist Feuer eine Verringerung der Masse, die Reduktion der Moleküle in Atome, wobei der Wasserstoff verbrennt und zu Wasser wird durch Beifügung des Sauerstoffs: Wasser hat die Zahl 10 gleich dem Edelgas Neon. Es ist das Urmolekül, das das Leben überhaupt ermöglicht, vor allem vereint mit dem Salz im Meer, Natriumchlorid, welches das nächsthöhere gesättigte Molekül darstellt.

Wasser und Salz sind imstande gleich den Edelgasen Energie aufzunehmen, zu bewahren und wieder abzugeben, nicht aber sich zu verändern. Das letzte Ziel des hermetischen Großen Werkes ist Durchgangstor von Kraft und Licht zu werden, indem deren senkrechte Ordnung — Licht oben, Kraft von unten — ergänzt wird durch das horizontale Wort, das in Beziehung zu anderen Wesen wirkt und die Vereinigung von Kraft und Licht auf allen Ebenen zustandebringt.

Das Kind kennt nur das innere Licht, es spielt seine Phantasie, kann Kraft noch nicht einsetzen außer jener seiner Bewegungsfähigkeit. Der Lernende, der in der bürgerlichen Ausbildung steht, hat weder Kraft noch Licht. Erst bei Beginn des Großen Werkes verwandelt er sein passives und erfüllendes Dasein in ein aktives und gestaltendes, das aber nur dann beginnt, wenn er die Grenzen von Traum und Tod im Bewusstsein überschreitet.

Wachen, die Welt der Sinne und der rechten Körperseite, der linken Hemisphäre des Großhirns zugeordnet, ist auf die Welt des Feuers gerichtet, physikalisch die Entropie.

Alles was wir im Tagbewusstsein bemerken, ist Feuer und Zerstörung. Das Nachtbewusstsein, der Traum, die Imagination, ist negentropisch und Aufbau. Sobald der Mensch die rechte imaginale Großhirnhemisphäre erlebt, weiß er die Antwort auf ein Problem, welche ihn von einer niederen zu einer höheren Struktur führt: die dissipative Ordnung von Prigogine. Die beiden Urenergien des Lichts und des Feuers, der Sonne und des Mondes müssen vereint werden, da sich das bewusste Leben nur zwischen diesen beiden entfalten kann.

Das Sonnenlicht ist Material der Integration, wie es die Pflanzen über das Chlorophyll aufnehmen können. Die Kraft des Feuers dagegen setzt von der Zerstörung von etwas Bestehendem an, etwa dem Holz. Das Feuer kann nun sinnlos verbrennen oder es kann den heiligen Ofen des Großen Werkes schaffen, worin der Mensch als Metall sich läutert, seine Reinheit, sein sonnenhaftes Gold erreicht. Der Ansatz hierzu ist die Erkenntnis des Hermes, des Merkur.

Der kleine Finger der linken Hand gehört zum Merkur. Das äußere Glied bestimmt das Sehen, das mittlere die Teilhabe am Feuer, und das unterste die Sehnsucht nach Augenlust, nach Kosmisierung der Welt. Licht ist der Stoff der Energie, Leben und Feuer die Kraft. Somit kommen wir zur entscheidenden Behauptung: es gibt in allen drei Welten und der vierten nichts anderes als Urlicht und Urkraft, indisch Bhairava und Bhairavi, im Himmel Sonne und Mond, in der Materie Helium und Wasserstoff und im Menschen Mann und Frau bezeichnet.

Die mangelnde Kenntnis von Physik und Chemie hatte die Alchemisten in eine mythische Verbrämung des Werkes gebracht, die im 16. Jahrhundert zur Teilung und Trennung des materiellen und mystischen Aspektes geführt hat. Erst heute ist das Verstehen wieder möglich: der eingreifende Merkur ist nicht das Quecksilber, sondern der Wasserstoff selbst, der zu den Halogenen gehört; ihm entspringt sowohl alle Energie als auch alle Masse.

Sehen verlangt Feuer, die Intention ist die Vollendung im Licht, dass der reine Sinnenmensch aus der Identifikation mit den Begebenheiten erwacht und seine göttliche Natur begreift, die ihn nach rückwärts mit dem Einenden Einen und nach vorne mit dem Menschen im All verbindet. Der mythische Hermes kennt seine Strategien, nimmt immer seinen Vorteil wahr, aber achtet die Götter, die er nie betrügt. Sein Sehen ist Ergreifen. Was nicht gesehen wurde, existiert nicht für das Wesen. Der Blinde sieht innerlich genau wie der physisch Sehende; der Weg zum Sehzentrum von der Erfahrung ist physiologisch weiter als der von der Imagination und vom Traum. Doch die wache Welt selbst birgt andere Welten in sich, die erst dann zugänglich werden, wenn das innere Auge durch das Rad geöffnet ist.

In der durchschnittlichen Bewusstheit werden alle Sinne aus dem Denken der Sprache begrenzt und gesteuert. Merkur ist nun ebenfalls Ursprung von Gebärde und Sprache: die Bedeutungen des Lesens kommen aus dem inneren Auge, wie ich in meinem Buch Durch Sinnlichkeit zum Sinn erläutert habe.

Der Gegensatz von Feuer und Licht offenbart sich für das Bewusstsein als Raum und Zeit. Raum, Feuer, geht von einer Mitte aus. Unter dem Meereswasser ist in der Erde das Feuer, worauf Wasser und Festland gleichsam schwimmen. Raum verlangt die Orientierung in den Richtungen, die die Mitte konstellieren und dadurch physisch das Bewusstsein im inneren Wort verankern, das der Handteller spiegelt. Das Feuer ist die Mitte der Hand als Lebenskraft und die Richtungen zeigen die Art und Weise, wie die Visionen des Lichts zugänglich werden.

Der Raum ist zu schaffen, die Zeit ist zu erfassen. Zeit entsteht durch die Sonne, die das Bewusstsein zwischen Tag und Nacht unterscheiden lässt und mit Morgen, Mittag und Abend drei Bewusstseinszustände vermittelt, während der vierte, die Mitternacht, das reine Denken, die Integration bestimmt.

So ist der Beginn des Großen Werkes die Anerkennung der Kriterien von Raum und Zeit im Rad. Wer diese in sich trägt, kann jederzeit in alle Welten. Seine Gebärden wachsen aus dem Inneren heraus und nie verliert er die Kraft des Feuers, wenn er sich des Werkes bewusst bleibt. So ist auch Merkur in der philosophischen Astrologie der Träger der Arbeit, und in der Wassermannzeit, dem sechsten Abschnitt der Menschheitsgeschichte — da Achterkreis und Zwölferkreis durch die Wanderung des Frühlingspunktes in den Wassermann zusammentreffen ist er der Ausgangspunkt. Was nicht klar unterschieden, gesagt und gemeint ist, hat in diesem Zeitalter keinen Bestand. Das Verhältnis zum Sehen, zu Licht und Feuer bestimmt das Empfinden: die rechte Lebenslinie zeigt die Entfaltung des Merkur in der Zeit, und der Ostpunkt in der Hand unter dem Zeigefinger zeigt die Einstellung nach innen und außen.

Aber auch die Meditation des Feuers in Zusammenhang mit dem inneren Licht kann den Merkur erwecken. Wichtig ist hierzu, das Horoskop des Menschen zu kennen, in welchem Zeichen und Haus Merkur sich befindet, welche Schwierigkeiten und welche Fähigkeiten zu bestimmen sind, bevor er zum göttlichen Helfer wird.

Die Planeten sind nicht nur Zeichen, sondern auch Wesen, allerdings nur in der Ordnung der Hände. Im Altertum fragte man in einer schwierigen Lage Hermes um einen Traum zur Klärung. Als ich das erste Mal über das Buch von C. G. Jung Aion davon hörte und in einem Vortrag von K. Kerényi eine Schilderung des Hermes im Mythos vernahm — ich war 31 Jahre alt — bat ich diesen um einen Traum, um meine Lage zu verstehen. In Griechenland und Rom war dies Teil der Religion und ebenfalls im Urchristentum; Hermes war der Psychopompos, der Seelenführer mit den geflügelten Schuhen. Ich erlebte vor dem Aufwachen einen Traum in vier Stufen:

  1. Ich selbst, als Affe auf einem Pferd, das so schäbig aussah wie die Rosinante von Don Quichotte, raste von Elefanten verfolgt über eine halbe Brücke wie die Brücke von Avignon in das Meer. Die Verfolgung war nicht angstvoll sondern heiter, das Pferd bewegte sich wie eine Gestalt in einem Cartoon von Walt Disney.
  2. Ich sank auf den Meeresgrund, dort war ein Theater. Ich saß gleichzeitig im Zuschauerraum und im linken Teil der Bühne, umgeben von den Elefanten.
  3. Ich glaubte, ich müsse auf die rechte Seite, doch die Elefanten bedeuteten mir, ich müsse links bleiben.
  4. Ich war auf einem Schiff in einer Kabine, umgeben von lauter Universitätsprofessoren, erkennbar an deren damaliger Tracht mit Knickerbocker und einem Pullover unter der Jacke, der ohne Krawatte nur den geschlossenen Kragen des Hemdes freiließ. Ich verstand kein Wort von dem was sie sagten, und dachte, sie sprächen türkisch, worauf ich hörte, sie sprächen miteinander hebräisch. Tatsächlich sind alle meine folgenden Versuche, mich mit solchen Menschen ins Einvernehmen zu setzen, gescheitert und damit habe ich schließlich reumütig den Rat der Elefanten endgültig angenommen: nicht rechts im Schiff auf der Oberfläche des Meeres, sondern links in der Tiefe des Meeres in Salz und Wasser das Werk zu beginnen.

Im großen Werk ist der erste Schritt Nigredo, die Erkenntnis des Schwarzen. Physikalisch kann nur die Schwärze alle Wellen aufnehmen und in spezifische Kräfte verwandeln. In den Chakras ist das Empfinden im Muladhara das einzige Tor zur Wirklichkeit. Es versteht die Welt wie sie ist. Licht wird in der Bewegung erlebt als von oben nach unten verlaufend, Kraft von unten nach oben;

  • Licht im Kreislauf der Sonne im Uhrzeigersinn,
  • Kraft im Kreislauf des Großen Wagens um den Polarstern gegen den Uhrzeigersinn.

Als hermetische Kraft des Feuers, das sich nicht mit der Materie und ihren Qualitäten, sondern ihrem Energiepotential identifiziert, kann ich meinen wahren Platz als Wortträger zwischen Urlicht und Urkraft einnehmen. Daher ist für Hermes die Wortwerdung und die Geschicklichkeit ausschlaggebend, vor allem aber Ahimsa, das Nichtwiderstehen. Hermes windet sich aus jeder Lage heraus, weil seine Gebärde der Wirklichkeit entspricht. Kein Denken kann einen dazu führen, sondern nur die Erkenntnis der Eigengestalt der sinnlichen Wahrnehmung.

In der Beobachtung erlebt man die Wesen durch die Kraft, die von ihnen ausgeht — wie etwa das Blau einer Blüte bedeutet, dass diese die Gegenfarbe Orange aufnimmt. Passt man sich diesem Schein an, so kommt man zum weißen Wesen, das dem Urlicht identisch ist.

Die inneren Wahrnehmungen, die aus dem fordernden Urlicht ansetzen, sind auf immer größere Ordnung gerichtet, also negentropisch. Durch seine geflügelten Schuhe ist Hermes in allen drei Welten zu Hause. Dass ich durch die Frage an die Erdgöttin das gleiche Bild erhalten habe, zeigt in Jung’scher Terminologie, dass dieses Wissen zum kollektiven Unbewussten der Archetypen gehört, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich ist, sobald die Traumschwelle überschritten wird.

Urlicht und Urkraft umfassen in ihrer Wechselwirkung das ganze All, als Sinneswesen bin ich richtig eingestellt. Doch dies zu werden, den Hermes als Gottessohn in sich zu verwirklichen, bedarf eines langen Weges. Übungswege wie der Yoga oder der Zen können den hermetischen Samadhi für kurze Augenblicke erreichen. Aber nur wenn der Mensch alle Übertragungen gelöst hat, wenn er alle zehn Finger gebrauchen kann — ist die Erleuchtung von einer bloßen Ahnung zu einer Gewissheit geworden, die den Menschen zum Mitarbeit an der Schöpfung fähig macht. Dies meint der Mythos der jungfräulichen Geburt der Gottessöhne wie Christus und Buddha. In allen Religionen wurden die Zusammenhänge dichterisch exakt beschrieben, so dass sie jedem — der gläubig an die Legende herantritt — einleuchtet und zum ersten Markstein seines geistigen Weges wird, der nicht aus der Erfahrung sondern aus der Frage ansetzt: Wer ist Merkur?

Arnold Keyserling
Das große Werk der göttlichen Hände · 1986
I. Teil:Die linke Hand des Mondes
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