Schule des Rades

Arnold Keyserling

Klaviatur des Denkens

Voraussetzung

Werkzeuge der Selbstverwirklichung

Mit Anbruch des neuen Zeitalters ist das Denken zur tragenden Funktion des Menschen geworden; unaufhaltsam werden die traditionellen Gesellschaftsstrukturen durch jene der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation verdrängt.

Diese Wandlung verlangt eine Änderung des Bewusstseins, deren Notwendigkeit kaum einem Menschen in ihrer Tragweite klar ist; denn anstatt sich selbst zum Subjekt, zum Träger der Verantwortung zu erheben, sucht er die Gründe seiner Existenz außer sich: er wähnt sich in Abhängigkeit von äußeren oder inneren Bedingungen — von Umwelt, Erbe oder den gesellschaftlichen Umständen im Rahmen einer bestimmten Ideologie.

Dieser Wahn schafft eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die ihm jene Freiheit raubt, welche das Ziel aller denkerischen und demokratischen Revolutionen gebildet hatte. Um sie zu erringen, gilt es nicht die äußeren Umstände zu verändern sondern das Bewusstsein aus der Fremdbestimmtheit zu lösen, indem die Gründe und Ursachen nicht mehr als determinierende Bedingungen, sondern als Werkzeuge der Selbstverwirklichung verstanden werden — indem er also ihren Zusammenhang in eine Klaviatur seines Denkens verwandelt.

Solch eine Klaviatur verlangt, dass sämtliche Gegebenheiten, die bewusst werden können, in Elemente zergliedert und als deren Zusammenhang zu bestimmen sind, dass also Analyse und Synthese in Entsprechung treten.

Das abendländische wissenschaftliche Denken, welches die Wandlung der Zivilisation verursacht hat, beschränkte das Wissen auf die Daten der äußeren Erfahrung und deren Gesetze, die durch Experimente zu verifizieren sind. Doch das Bewusstsein umfasst mehr Gebiete als die Welt der objektiven Wissenschaft: die Zustände des Wachens und der Reflexion als ihr Schwerpunkt wechseln mit Traum und Tiefschlaf. Ein wahres Bewusstsein wäre erst dann erreicht, wenn der Mensch einen kontinuierlichen Zustand verwirklicht, die die vier Stadien einschließt, die im Tageslauf alternieren und sich im Kreis veranschaulichen lassen:

schlafenwachen


Bewusstsein


träumen
reflektieren

Das Wachen erfährt über die Sinne die Außenwelt; die Reflexion gliedert mittels Sprache und Gedächtnis die Erfahrungen und bildet die Grundlage der Kommunikation; die Traumwelt gibt Einblick in die Sphäre der Wünsche und Triebe, und der Schlaf als Abwesenheit der Bewusstseinsinhalte bedeutet die Fähigkeit der Regeneration und Intensität und damit innere Stille, welche aber nicht seinsleer, sondern als Zustand der Freude erlebt werden kann.

Das Bewusstsein gliedert das Erleben in vier Ausschnitte; erst ihr Zusammenhang erschließt den Sinn und die Bedeutung des Daseins. Daher gilt es, die vier Stadien als Zugang zu vier Welten zu erkennen:

  1. Die Erfahrung des Wachens vermittelt die Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit, der Natur.
  2. Die Bilderwelt des Traumes gibt Einblick in die Innenwelt des Gemüts.
  3. Das Erlernen der Sprache erhellt das Zustandekommen der Reflexion, von Information, Kommunikation und Gedächtnis,
  4. und die Erfahrung der inneren Stille erschließt die Welt der Möglichkeit.

Innere Leere ist die Voraussetzung, dass etwas bewusst werden kann. Die Inhaltsleere bedeutet nicht Formlosigkeit; als Gegenpol der sprachlichen Reflexion muss sie die Weisen enthalten, wie sich Bewusstseinsinhalte bilden können. Bewusst sind Inhalte, Sein bedeutet Verbindung: diese ergibt sich nur über das Allgemeine, und Urbild des Allgemeinen ist die Zahl. Somit bildet die innere Stille den Zugang zur Mathematik als den Prinzipien des Seins.

Zahl
schlafen
Natur
wachen



Gemüt
träumen
Sprache
reflektieren

Das menschliche Bewusstsein wird dann der technischen Zivilisation gewachsen, wenn die Kriterien der vier Welten zu einer Klaviatur gefügt sind, die die denkerische Brücke zwischen Wesen und Welt schafft. Die Erstellung dieser Klaviatur ist das Ziel der Abhandlung

  • der erste Teil bestimmt die Kriterien der Zahlenwelt mittels der Dimensionen von Raum und Zeit,
  • der zweite erklärt aus diesen Kriterien den Aufbau der Natur,
  • der dritte zeigt die objektive Struktur der Sprache,
  • und der vierte bringt, in Entsprechung zu den drei anderen, die Gliederung des Gemüts. Die Gesamtheit der Kriterien wird im Rad zur Anschauung,
  • und der fünfte Teil zeigt die Bedeutung der Klaviatur als neue philosophische Disziplin der Kriteriologie.
Arnold Keyserling
Klaviatur des Denkens · 1971
Voraussetzung
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD