Schule des Rades
Arnold Keyserling
Klaviatur des Denkens
4. Gemüt
Das Rad
Für das Bewusstsein bleiben die vier Weltgebiete, die wir in den vier Teilen besprochen haben, voneinander getrennt. Jeder Versuch, vom einen auf das andere direkt zu verallgemeinern — etwa von der Sprache auf die Wirklichkeit zu schließen, oder das Gemüt aus der Gehirnstruktur abzuleiten — muss zu Ungereimtheiten führen. Aber die vier Gebiete stehen in Entsprechung zueinander, sie verhalten sich analog. Diese Analogie ist nicht, wie in der traditionellen Philosophie, zufällig oder willkürlich, sondern sie beruht auf folgendem Gesetz: was immer sich mittels des gleichen Zahlenschlüssels zusammenfügen lässt, ist seinsmäßig identisch; nicht dinglich, im Hinblick auf die äußeren Objekte, sondern operativ im Vorgang der Bewusstwerdung und damit auch der Verwirklichung.
Das menschliche Bewusstsein braucht nicht autonom zu sein es kann es aber werden. Und dies nur dann, wenn es die Gesamtheit der unmittelbaren Gegebenheiten als Klaviatur gemäß ihrer zahlenmäßigen Identität verwendet. Diese Klaviatur ist um einen Grad exakter als die gewöhnliche philosophische Systematik, die aus einer oder mehreren Voraussetzungen die Welt zu konstruieren unternimmt; wir bezeichnen ihren Gebrauch daher als Kriteriologie: als Lehre von den Kriterien als den letzten Elementen des Verstehens und des Bestehens.
Der wissenschaftliche Erweis ihrer Notwendigkeit wurde im vorigen versucht; doch ihr Gebrauch, ihre Synthese ist nicht ein für alle Male festzulegen. Sie gehört zum Bereich der Kunst, ist persönlicher Ausdruck jedes einzelnen, wobei der eine die Elemente als Komponenten seines Wesens versteht, der andere als Prinzipien seines Gestaltens, der dritte als Weg zur Vertiefung der Wahrheit, der vierte als Mittel zur Zerstörung falscher oder vorläufiger Synthesen, der fünfte als Zugang zur Intensität des Seins, der sechste als Weg der Befreiung über das Erleben des Nichts als Urgrund, und der siebte als Entscheidung für seine eigene Selbstverwirklichung durch bewusste Vereinigung der vier Gebiete, um nur einige Möglichkeiten zu erwähnen.
So ist auch das Rad als Darstellung des analogen Zusammenhangs aller Kriterien nicht als Illustration des Textes gedacht, sondern umgekehrt: der Text dient dem Verständnis des Rades, das sich in indischer Terminologie als Ur-Mandala und Kramamudra, in chinesischer als Urbild, in ontologischer Sprache als natürliches System der Philosophie, in erkenntniskritischer als Gliederbau der Vernunft, in phänomenologischer als systematische Wesensschau und in psychologischer als Schema der Individuation enthüllt.
Ist dieses Verständnis einmal erreicht, so tritt es in den Hintergrund gleich der Grammatik gegenüber der Alltagssprache; es kehrt wieder in jene Unbewusstheit zurück, der es entstammt. Dann wird der Mensch bewusst die beiden Pole Sinn und Leben, das Unerschöpfliche und die historische Wirklichkeit in seinem persönlichen Lebensstil vereinen und damit der technischen Zivilisation nicht nur gewachsen sein, sondern sie als Weg zur Fülle in freier Gemeinschaft gestalten.
Bei der Herstellung dieses Buches hat uns unser Freund und Mitarbeiter Reinhard Aigner, der im Herbst 1970 gestorben ist, ganz besonders gefehlt. Unserem letzten Gespräch entstammt die Tafel auf Seite 11: die Entstehung der Dimensionen aus der Null, dem Unerschöpflichen.