Schule des Rades

Arnold Keyserling

Luzifers Erwachen

5. Zahlenwelt

In der traditionellen Metaphysik unterschied man die Richtungen nach Maßgabe der zugrundeliegenden Zahlenstruktur: Monisten, Dualisten, Trinitarier, Verehrer des vierfältigen Gottes oder des fünffältigen natürlichen Menschen (Pentagramm). Doch die Zahlen entstammen der Zahlenwelt, sie sind inhaltlich. Diese Art von Metaphysik gehört zur Grammatik. Sie bestimmt, wie Wissensformen zustande kommen und ist das eigentliche Feld philosophischer Prämissenkritik. Ein Bekenntnis zu einer Zahlenform und damit auch zu einem zahlerzeugten Gottesnamen wie Dreifaltigkeit verhaftet das Verstehen an einen Aspekt unter Ausschluss der möglichen anderen. Wer drei sagt, sagt nicht zwei, und glaubt er sich als Träger der Wahrheit, so wird er die Gezweiten verfolgen, wie die mittelalterliche Kirche die gnostischen Sekten.

Metaphysik im traditionellen Sinn fußt auf einer bestimmten Zahl, die zum Glaubensansatz wird. Diese Prämisse ist nicht denknotwendig; denn die Zahlenwelt selbst weist auf ihren Ursprung in der Null, im Nichts, aus dem — oder im Gegensatz wozu — sie sich verwirklicht. Null ist jene Stelle, wo das Sein zum Etwas durchbricht. Sie ist immer offen, verhindert die Schließung des Systems der Zahlenwelt. Damit werden alle Zahlen zum Gegenstand des Wissens, zu Klassen der Wirklichkeit, sie zeigen die Art und Weise, wie sich die Wirklichkeit aus Elementen zu Erscheinungen verknüpft.

Betrachten wir die Zahlenwelt aus mathematischer Sicht, so zeigt Null in allen Dimensionen einen verschiedenen Charakter. In der nullten Dimension ohne Ausdehnung, der Punkte und zeitlosen Momente, bedeutet es die Wurzel allen Zählens, die Zahl als Möglichkeit, als Klasse. Damit zeigt die nullte Dimension den Vorgang der Schöpfung aus dem Nichts, in religiöser Sprache aus Gott an; denn jedes Wesen hat seine Form in einer ganz bestimmten Zahl. Seine Möglichkeit ist in der Qualität enthalten, die durch seine Zahlenstruktur bestimmt wird: das Gold, mit 79 Protonen, verliert bei deren Verminderung seine Qualität, es wird etwas anderes — etwa 78 Platin.

In der ersten Dimension der Linie und Bahn bedeutet die Null den Ausgleich zwischen positiv und negativ im Rahmen der ganzen Zahlen:

…-5-4-3-2-1-
0 -1-2-3-4-5-…
+

In der zweiten Dimension der Fläche und des zeitlichen Umlaufs, der rationalen Zahlen — denen allein das Denken gerecht wird, weshalb der Ausdruck rational für die Vernunft gewählt wurde — bestimmt es die Copula, das inhaltsleere Sein der Gleichung:

3 × 4 = 12

Die erste Dimension wird dem Empfinden gerecht. Die Null als dialektische Mitte, als Ausgleich zwischen positiv und negativ kennzeichnet den Vorgang aller Wahrnehmung: Gegenstand und Organ, Bild und Gesichtssinn vereinen sich zur Empfindung, deren Subjekt weder im einen noch im anderen Pol enthalten ist. Aus den Gegenfarben entsteht additiv das weiße Licht oder subtraktiv Dunkelheit: Addition und Subtraktion bestimmen die Methodik der ganzen Zahlen, alle ihre Ergebnisse befinden sich immer auf der einen Zahlengeraden.

Die Ergebnisse des Denkens dagegen verlangen die Anschauung der Fläche: die rationalen Zahlen, Brüche und Produkte ergeben sich durch die Bildung der senkrechten Achse auf einer Linie. Eine unendliche Anzahl von Linien schichten sich zur Fläche, wie eine unendliche Anzahl von Punkten von der endlichen Linie umfasst sind. Während jedoch die Null der ganzen Zahlen die Mitte zwischen positiv und negativ bedeutet, bestimmt den Zusammenhang einer Gleichung das Istgleichzeichen: der Ausgleich der ersten Dimension wird zum Verstehen in der zweiten.

Verstehen kann man logisch nur den Satz, dessen Prädikat sein ist; denn dann allein ist sein Gegenteil falsch, und im Rahmen beider Möglichkeiten gibt es keine dritte. So verlangt denken immer die Verknüpfung von Analyse und Synthese im Sein, und die Nichtheit, die Null des Seins äußert sich darin, dass das Bewusstsein für neue Inhalte frei wird.

Im Bereich der dritten körperlichen Dimension mit den reellen Zahlen finden wir etwa das Fallgesetz der Mechanik, demzufolge ein frei fallender Körper Strecken zurücklegt, deren Länge mit dem Quadrat der Zeit wächst:

0 · 1 · 4 · 9 · 16 · 25 …

oder die Struktur des Atoms mit sieben Schalen, die sich in den quantenhaft bestimmten Abständen vom Atomkern befinden und diesen umkreisen. Hier bezeichnet die Null den intervallischen Zusammenhang in Raum und Zeit, die Kraft der Integration: das was die Atome zusammenhält — die letztlich Strukturen in der Leere darstellen — ist die intervallische Leere selbst, die sich aber nicht als reine Leere, sondern als Gesetz darstellt. Für das Denken ist Gleichung das Gesetz, das verstanden und assimiliert wird und damit die Aufmerksamkeit befreit. Für das Fühlen als Funktion wird dieses Gesetz auf ein Subjekt bezogen, das nach Ganzheit strebt: das Beharren in der Beschleunigung in der Schwerkraft, oder das Beharren in der gleichen Form in der Schalenbildung der Atome, das Beharren als Gestalt im grobstofflichen Bereich der wahrnehmbaren Körper.

Die Gestalt äußert sich als Sehnsucht nach Ganzheit im Rahmen einer vorgegebenen Struktur, ob nun Kristalle nach immer gleichen Parametern wachsen, oder Organismen Geschädigtes heilend ergänzen.

Die Dauer wird in der dritten Dimension aus der Sicht des Beharrens betrachtet; in der vierten wird sie zur Bewegung. Bewegung heißt Vereinigung von Raum und Zeit, und so sind wir im Wollen angelangt: im Begriff der Gegenwart, dem Nichts oder der Leere zwischen Vergangenheit und Zukunft, welches entweder Möglichkeiten im Entscheiden verwirklicht, oder in ruhiger Intensität west. Wollen alterniert zwischen potentieller und kinetischer Energie, sein Subjekt ist die Gegenwart. Die entsprechende raumzeitliche Zahlenwelt der komplexen Zahlen — sie beschreibt die vielfältigen Schwingungen, während dreidimensional eine Umdrehung einer Fläche um ihre Achse den Raum eines Volumens ausfüllt — bestimmt die Monade der Wirklichkeit. Denn wirklich sind nur entscheidungsfähige vierdimensionale Ereignisse. Alle beobachtbare Energie entsteht aus Massepunkten, deren gemeinsames Medium die endliche Lichtgeschwindigkeit bildet. Alle Räume und Zeiten sind Schwingungen in ihrem endlichen Medium, so wie etwa jeder Ton sich als bestimmte Wellenlänge und Frequenz, Raumspanne und Zeithäufigkeit äußert, doch nur mittels der einen Schallgeschwindigkeit andere in Resonanz, in Mitschwingen versetzen kann.

Die vierte Dimension bestimmt den raumzeitlichen Zusammenhang der Wirkeinheiten. Dies ist die tatsächliche Wirklichkeit, die im Entscheiden fußt.

  • Das mineralische Atom kennt nur das Wollen, die Fähigkeit zum Ja und Nein.
  • Beim Tier tritt zum Wollen das Fühlen, die Beharrung als Gestalt;
  • beim Menschen das Denken, die Fähigkeit des Verstehens,
  • und bei der Pflanze das Empfinden, die Umsetzung von Energie durch Gegensätzlichkeit zum Kraftquell der Sonne.

Doch der Mensch ist nicht nur im Denken: er teilt mit Mineral, Pflanze und Tier deren Wesenhaftigkeit über die Funktion.

  • Das Empfinden, das ihn mit den Pflanzen verbindet, hat als Inhalt die Sinnesdaten,
  • das Fühlen, welches ihn den Tieren verschwistert, die Triebe,
  • das Denken, das er für sich allein hat, die Sprache,
  • und das Wollen, welches ihn dem Wirken der anorganischen Welt eingliedert, den potentiellen und kinetischen Aspekt der Energie, als Aufmerksamkeit (Öffnung) und Entscheiden (Schließen).

Was ist nun aber das Sein der vier Aspekte? Identifiziert sich der Mensch mit einem der Inhalte so geht er sich selbst verloren:

  • Willenskonsequenz ohne Sein führt zur Sturheit,
  • Gefühlsstärke ohne Sein zur Leidenschaft;
  • Denken ohne Sein zur Meinungsbildung,
  • und Empfinden ohne Sein zu Eitelkeit und Habsucht.

Nur auf die Null, den Weltengrund bezogen, kann das Sein wirksam werden. Gott ist keine Hypothese, sondern jeder seiner Namen bedeutet einen anderen dimensionalen Zugang zum Unerschöpflichen.

  • Im Wollen offenbart er sich als die Fähigkeit der Allgegenwart. Dies wollten die früher erwähnten dreifältigen Gottesnamen erreichen, die Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart des Sohnes oder der Inkarnation Vishnus verbanden.
  • Im Fühlen bestimmt er die Fähigkeit der Integration, die Urkraft, scholastisch der Prädestination zur eingeborenen höchsten Möglichkeit, deren Erfüllung nicht nur die eigene Monade, sondern auch die Fremdmonade umgreift.
  • Im Denken bedeutet er das Sein, dessen Voraussetzung die Entsprechung von Analyse und Synthese bildet. Verstehen tut der Mensch, doch die Möglichkeit des Verstehens entstammt dem unendlichen Begriff des Seins.
  • Im Empfinden vereinen sich die Gegensätze einzig und allein im Urlicht, das dem Denken als mysterium conjunctionis verschlossen ist, aber der inneren Wahrnehmung als das weiße Licht der Erleuchtung zugänglich wird, das die Seligkeit der körperlichen Vereinigung umgreift. Fühlen strebt nach Vereinigung, aber im Sinne der Heilung, Empfinden erreicht sie ohne Sehnsucht, bedarf aber der subjekthaften Ergänzung: dies ist die Urproblematik der mann-weiblichen Beziehung.

Gott ist Allgegenwart (4), Urkraft (3), Sein (2), Urlicht (1) — aber vor allem ist er das Unerschöpfliche (0), als welches ihn die früher erwähnte letzte Predigt des Buddha bestimmt.

Null ist kein Glied der natürlichen Zahlen, sondern deren dimensionale Klasse. Wie offenbart sich die Null im Nichts? Als doppelte Negation, als das unerschöpfliche Etwas, als die Potentialität, aus der alles entsteht — als die Urstruktur der Zahlen. Da nun das Bewusstsein sich in den Dimensionen entfaltet, schließen sich die Zahlenstrukturen zum fünften Namen Gottes in der Figur des Rades, welches Gott nicht nur intensiv negativ, sondern inhaltlich positiv im Sinne der Ebenbildlichkeit bestimmt.

Zahl, Arithmetik und Geometrie, gibt es nicht in Wirklichkeit, sie sind nur in der Möglichkeit, ja sie sind die Möglichkeit. So findet der vierfältige Gottesbegriff seine Quintessenz im R A D.

Arnold Keyserling
Luzifers Erwachen · 1972
5. Zahlenwelt
© 1998- Schule des Rades
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