Schule des Rades

Arnold Keyserling

Luzifers Erwachen

7. Weltenjahr

Als der Impuls des Wollens das erstemal in der Geschichte der Menschheit auftauchte — am Ende der Löwezeit vor Beginn des Weltenjahrs (vor 11.000 Jahren) — wirkte er sich negativ aus, indem er das alte Gleichgewicht des Menschen mit der Welt der Instinkte, der überbewussten Evolution zerstörte. Dies wurde in verschiedenen Mythen zum Ausdruck gebracht, in jenem der Schlange im Paradies, die den Menschen zum selbständigen Denken verführte, und des Erzengels Luzifer, gnostisch Bruder des Christus, der sich verlor, da er nicht dem Licht folgte, sondern selbst scheinen wollte.

W e l t e n j a h r

So richteten sich die Religionen — als Versuche, auf Bewusstseinsebene die verlorene Rückbindung wieder zu erreichen — nach bestimmten Parametern, wie sie durch den Tierkreis im Fortschritt des Frühlingspunktes im Weltenjahr gegeben waren.

  • In der Krebszeit, der Begründung der Familie durch bewusstes Nacherleben der Natur mit Saat, Frucht und Ernte in Gleichsetzung mit Geburt, Tod und Wiedergeburt.
  • In der Zwillingszeit der Kalenderkultur im Folgen der himmlischen Parameter, der eigene Wille wurde den Konstellationen untergeordnet, die Wanderungen der Stämme waren gleichsam überbewusst gesteuert — bei den nordamerikanischen Hopis bis ins 9. nachchristliche Jahrhundert.
  • In der Stierzeit war der Wille der Stadtkultur eingeordnet, dem bestimmten Ritus und der Pflicht zur Arbeit, wie diese im Bau der Pyramiden in Ägypten zum Ausdruck kam.
  • In der Widderzeit wurde er dem Gesetz unterstellt, und Gott offenbarte sich als Zusammenhang des Volkes, heischte absoluten Gehorsam; der Eigenwille galt als satanisch.
  • In der Fischezeit mit ihrer Betonung der Demut und des Bekenntnisses zu einem übernationalen Reich galt es den Naturwillen abzulegen, und nur der Liebe Gottes zu folgen; Christus offenbarte sich als der Weg, der in seinen Heiligen fortlebte. Das persönliche Horoskop, die eigene Struktur wurde vernachlässigt, man feierte nicht den persönlichen Geburtstag, sondern den Namenstag jenes Heiligen, nach dem der einzelne getauft war, um damit seine Anlage gleich der Veredlung eines Apfelbaums zu überwinden. Das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Anfang an.
  • Im Übergang zur Wassermannzeit wurden die drei Denkplaneten entdeckt und wirksam:
    • 1787 Uranus im Zusammenhang mit der amerikanischen und französischen Revolution, die die Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen postulierten.
    • 1846 Neptun, gleichzeitig entstand mit Marxens Kapital die soziologische Bewegung, die die dialektisch-politischen Mittel entfaltete, um den Menschen aus der Ausbeutung zu befreien.
    • 1930 wurde Pluto entdeckt und gleichzeitig schuf die Entfaltung der Technologie die Vorbedingung, dass fortan tatsächlich jeder Mensch seine Anlage verwirklichen könnte und nicht mehr, wie man es im Mittelalter annahm, vierzig Menschen für die Ernährung eines Herren notwendig wären: im Gegenteil, heute kann ein Produzierender vierzig andere unterhalten, die damit für die eigentlich menschliche Welt, die Ebene der Dienstleistungen frei werden.

So ist nun der luziferische Impuls nicht mehr negativ. Im Gegenteil, das Bekenntnis zur eigenen Anlage — zum eigenen Mythos — wird Voraussetzung der Erfüllung der Evolution.

Traditionell wird der Erzengel Luzifer — der ursprünglich als Uriel, Licht Gottes, ein Tor zum Paradies bewachte und später fälschlich mit dem Morgenstern identifiziert wurde — in dem Augenblick aus seiner Verblendung erwachen, wenn er sich wieder dem Licht, das er brachte, unterordnet: dies geschieht heute, wo der neue Planet die Rolle der entscheidenden Verantwortung in der Bewusstseinsstruktur einnimmt, und damit die Sonne aus der Pseudorolle des Löwen — des Kaisers und Herrn — in das integrierende Licht zurückverwandelt, das über Mineral, Pflanze, Tier und Mensch gleichmäßig scheint und deren Kommunion ermöglicht. Gleichzeitig wird bekenntnishafte Haltung nicht nur negativ, sondern zerstörend; im Namen einer Gruppe beginnt die eigene Anlage krebshaft zu wuchern, der Wollensimpuls entartet zum schrankenlosen Machthunger.

Das Wollen ist dunkel, es entstammt dem Unbewussten und verwirklicht sich nur im Handeln, in der geschichtlichen Einordnung. Demokratie, Erziehung für alle, soziale Dialektik und Technik sind Vorbedingungen, auf dass der einzelne frei werde. Aber frei leben kann er nur, wenn er das falsche Selbstopfer überwindet für das einzig richtige: das Leben als bewusstes Sterben aufzufassen, indem sämtliche Anlagen über ihre Verwirklichung für die Gattung fruchtbar werden.

Dies kann nur jener vollziehen, der sich zu seinem Wesen seiner Sonne bekennt, die einerseits Ton im Weltkonzert andrerseits Mitte des einzelnen wird und ferner seine persönliche Willensstruktur verwirklicht. Wer sich nicht bejaht, wird zum Zerstörer an der Gattung. Demut wird ebenso negativ wie Hochmut. In einer Zeit, da jeder sich als ganzer Kreis versteht, kann es keine soziale Hierarchie, keinen Vergleich, keine Leistungsgesellschaft geben, obwohl die Arbeit ihre Rolle behält, ja sogar vertiefen wird; jene Art der Intensität, die ein großer Schauspieler bei seinem Auftritt, ein Künstler während der Gestaltung, oder der Durchschnittsmensch in der existentiellen Krise erreicht, muss zur normalen Ebene des Lebens werden.

Die alte astrologische Systematik bleibt zur Hälfte gültig für die Planeten des Empfindens und Fühlens, jene, die mit der waagrechten Achse der Arbeit an der Evolution zu tun haben, von der der Umweltschutz den ersten zaghaften Anfang bedeutet. Die senkrechte Achse hingegen verläuft zwischen technischem Selbstverständnis als Werkzeug, wie das Horoskop es zeigt, und Bejahung der Verwirklichung jedes einzelnen. So treten wohl an die Stelle der Kirchen und Sekten in der Wassermannzeit Schwerpunkte auf der Erde, welche die Methoden studieren und zugänglich machen, wie der einzelne zu seinem eigenen Wollen vordringt und die Existenzangst überwindet.

Der Yaqui-Meister Don Juan sagt: Der Krieger weiß worauf er wartet — er wartet auf seinen Willen. Der Weg der neuen Zeit ist jener des Wissens, nur im Wissen schreitet das Bewusstsein von weniger zu mehr fort. Der Wille hebt aus der Struktur des Genoms an, aus dem körperlichen Wollen; dieses ist das Etwas, das die Aufgabe darstellt. Es gibt keine himmlische Aufgabe mehr, sondern der Zusammenhang mit dem Kosmos offenbart sich über das Nichts.

Arnold Keyserling
Luzifers Erwachen · 1972
7. Weltenjahr
© 1998- Schule des Rades
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