Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

II. Kosmogonie

Wirklichkeit

Das Rad zeigt die Ichwerdung aus dem Blickwinkel des Inbegriffspaares Seele-wollen. Es ist eine Sprache, die man erlernen muss, um als Ich wirken zu können. Diese Wirkung richtet sich auf die materielle Wirklichkeit. Man kann diese ignorieren und sich auf die Beschäftigung mit den Assoziationen des Bewusstseins beschränken. Aber der Nullpunkt des Gewahrseins ist gleichzeitig der Ursprung der Schöpfung. Unsere Wirklichkeit ist uns durch die Sinne gegeben. In der Sprache sind Raum und Zeit abstrakte Kategorien des Miteinander und Nacheinander, der Ruhe und Bewegung. Doch die Wirklichkeit, in der wir leben, wird durch zwei Sinne vermittelt: das Auge schafft den Raum, das Ohr die Zeit.

Das Auge unterscheidet zwischen Fokus und peripherer Vision. Es ist gleichzeitig über die gegensätzliche Großhirnhemisphäre auf eine Einzelheit gerichtet und der peripheren ganzheitlichen Schau fähig.

So ist der Raum sowohl endlich, als perspektivischer Fokus, als auch unendlich in der peripheren Vision. Der Fokus ist das Etwas des Sehens, die Eins, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet ist, das periphere Sehen ist das Nichts der Unendlichkeit als Null.

Beim Ohr ist der einzelne Ton das Etwas, und das Nichts ist das Intervall, das zwei Töne miteinander verbindet.

In der Sprache wird die Welt seelisch vergegenwärtigt; der verstandene Satz wird zum Wissen, das der Erinnerung zur Verfügung steht. Bei Auge und Ohr wird durch die Empfindung der Sinn der Wirklichkeit erfahren. Hier sind die Zahlen nicht nur Wortarten wie bei der Grammatik, sondern unterscheidbare Elemente von Materie und Energie.

Unsere Wirklichkeit ist sinnlich. Der Rationalismus der Aufklärung hatte seit Galilei und Locke nur Zahl, Raum und Zeit als primäre Qualitäten verstanden, und die Sinneserfahrung als subjektive Illusion erklärt. Tatsächlich ist aber unsere Welt ein Sinnesfenster des elektromagnetischen Kontinuums. Nur durch dieses können wir sie erfahren und auch gestalten.

Im Gewahrsein erzeuge ich entweder die Welt oder mich selbst. Daher stehen dem Sinn als Form die Sinnesdaten als Inhalte gegenüber, und das Gesetz der Sinne ist das Gesetz des Sinnes. Die Zahlen sind also nicht nur im Seele-wollen als Konstituenten des Ich und der Sprache zu erfassen, sie sind auch im Körper-empfinden als der Zugang zur Materie zu verstehen.

Wir betrachteten bisher das Rad als Vision und Offenbarung. Mittels der mathematischen Struktur der Sinne können wir es konstruieren und damit das Gewahrsein zum Ort der Kreativität erheben.

Die Fernsinne sind allbezogen. Mit dem Auge erschaffe und erfasse ich geometrisch den Raum durch Form und Farbe, mit dem Ohr arithmetisch die Zeit. Töne bedeuten regelmäßige Schwingungen zwischen den beiden Schwellen der Hörbarkeit, 16 und 20.000 Hertz. Mit dem Auge erfahre ich eine Oktave der Lichtschwingung zwischen 3.800 und 7.600 Ångströmeinheiten. Mit den Körpersinnen erfasse ich die drei Zustände der Materie zwischen dem absoluten Kältepunkt von −273° Celsius und dem noch nicht bestimmten Hitzepunkt, wo alle Materie in Energie übergeht;

  • mit dem Riechen den gasförmigen Zustand,
  • dem Schmecken den flüssigen
  • und dem Tasten den festen.

Nicht nur in der Sprache, auch in der Wahrnehmung des Empfindens ist Quantität gleich Qualität. Heute gilt philosophisch die Mathematik als eine Norm- oder Idealwissenschaft. In Wirklichkeit ist sie überhaupt keine Wissenschaft sondern Weisheit. Das falsche Ichbild als Torheit entsteht, wenn man die Bedeutung dem Sinn überordnet, also die Sprache der Mathematik. Letztere schafft und konstelliert das Subjekt. Schon Pythagoras erkannte, dass sie als Weisheit nicht beliebig konstruierbar ist, sondern auf jene Komponenten beschränkt werden muss, die wahrnehmbar sind.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD