Schule des Rades
Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens
I. Semiotik
Eine Welt
Es gibt nur eine Welt. Sie umfasst Diesseits und Jenseits, Natur und Geist, Mensch und Gott. Sie ist rational nicht zu bestimmen; sobald man das Unendliche einfangen will, ist die Rationalität gesprengt. Die Ganzheit übersteigt alle Vorstellung.
Gott ist die Liebe, das Einende Eine. Das Einende Eine hat seinen Urgrund im Nichts. Das Nichts in seiner Beziehung zum Etwas ist die Null. Das Etwas ist die Eins. Eins ist Zahl. Alles ist insoweit Zahl als es am Charakter der Eins teilhat. Eins ist das Größte und das Kleinste, Maximum und Minimum. Doch wirkt es eine Richtung. Sie geht vom Kleinsten zum Größten, vom Ursprung zur Vollendung.
Gott als Null ist die Zeit, die ewig wird und niemals ist. Gott als Eins ist der Raum, wo sich Gegebenheiten um eine Mitte nach Richtungen gliedern, die in die Unendlichkeit weisen. Gott als der Einende Eine wird dauernd vom Nichts zum Etwas und ist stets das Gewordene. Damit ist er einerseits Sein als die Verbindung zwischen allem, andererseits Wesen als Beschaffenheit, als Qualität. Es ist ewige Singularität, unerkennbar, unbeschreibbar für die Deutung, aber bestimmbar in seinem Ort und seiner Wirkweise.
Der Mensch west im Bilde Gottes. Diese Bildhaftigkeit konstituiert seine innerste Sehnsucht, die der arabische Gottesname Allah bedeutet. Diese Sehnsucht ist die Liebe, die man nicht machen kann, sondern an der man teilhat, wenn man sich ihrem Strom öffnet.
Das Kind wächst auf in der Liebe. Es fühlt sich zuerst eins mit der Mutter in inniger Sehnsucht; es fühlt sich eins mit dem Vater, auf Werk und Vollendung gerichtet. Als natürliche Geburt ist das Kind aus der Liebe entsprungen, aus der Vereinigung der Eltern. Aber dieses Entsprungensein ist nicht auf ewig; einmal muss es sich, in der Hinwendung zur Zukunft und zur großen Liebe von seinen Eltern trennen.
Das Kind erlebt seine Welt aus der Liebe, ihr Sein ist seine Herkunft. Dadurch, dass in der Vereinigung von Mann und Frau das höchste Glück, die Freude mitschwingt, bleibt die Erinnerung. Viele sehnen sich daher nach der Kindheit oder nach dem Paradies und betrachten die irdische Existenz als Fall, mythisch als Verlassen des goldenen Zeitalters.
Die Heimat ist doppelt zu verstehen. Einerseits ist sie die Herkunft. Erinnere ich mich an die Liebe der Eltern in den ersten Jahren, dann habe ich ein sicheres Kriterium, einen Maßstab für mein Handeln. Denn das Ziel der irdischen Entfaltung ist der Weg von der kleinen Liebe zur großen, von der sexuellen Seligkeit zum Samadhi des Gewahrseins.
Die Zukunft weist auf ein Leben nach dem Tode an einem Ort, wo die Beziehung zu anderen Wesen sich in Liebe vollzieht. Liebe bedeutet Mitschwingen, Harmonie, heilige Ordnung im Unterschied zur profanen und statistischen der Wissenschaft. Jeder spürt, dass er diese heilige Ordnung will, wo das Gute siegt und das Böse von selbst in die Vereinzelung, in die Vernichtung zurücksinkt.
Die Zukunft ist noch nicht, die Herkunft ist Besitz. So lebt der Mensch zwischen zwei Subjekten, dem Selbst, das seit Anbeginn besteht, ein Fünklein Gottes, Atman als Teil des Brahman, und dem Ich, das fähig wäre, in der Zeit zwischen Geburt und Tod den Aufstieg vom Kleinsten zum Größten zu vollziehen und sein Gemüt, das nebelhafte Chaos der göttlichen Potentialität, in ein kosmisches Wesen, einen transpersonalen Partner Gottes zu verwandeln.
Gott ist in der prophetischen Offenbarung der Schöpfer der Welt. Gott auf dem Weg der Weisheit ist der Mensch im All, ist das himmlische Urbild der Welt. Dieses Urbild, von der Erde aus geschaut, ist eine geordnete Mannigfaltigkeit, die man weder durch Erfahrung noch durch Erkenntnis findet, sondern nur indem sie spontan als Vision aufleuchtet: das Rad.