Schule des Rades
Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens
II. Kosmogonie
Empfinden - Photon - Mensch - Galaxis - Geist
Die Welt des Lichts und der Erfahrung ist ganzzahlig. Sicher ist unsere Lichtwelt nur eine der möglichen in einem Sinnesausschnitt. Doch diese entscheidet über den Sinn unseres Daseins zwischen Geburt und Tod. Wenn der einzelne nur funktioniert und sich als Funktion versteht wie in der westlichen Soziologie, dann hat sein Leben keinen Sinn. Nur mit einem immer neu erwachendem Feindbild lässt sich solch eine Existenz aushalten. Sobald sich aber einmal der Blick nach innen kehrt und dem Geist zuwendet, dann findet der Mensch die echte unendliche Dynamik seines Daseins, die nur über die Mitgestaltung der Zivilisation zugänglich wird.
Erfahren und gestalten sind zwei Aspekte des Empfindens. Dessen Bedingungen haben nichts mit dem Überleben zu tun; wir haben sie im ersten Kapitel als die Gesetze der Sinne geschildert. Oft ist die Sprache in Gefahr, in der Vorstellung den Blick auf Außenwelt und Innenwelt zu verstellen. Darum nannten die Inder die menschliche Existenz Maya, Schein, ebenso Platon in seinem Höhlengleichnis.
Durch die unassoziative Wahrnehmung kann man erkennen, dass die Gesetze der Welt jene der Sinne sind und nicht solche der Sprache. Der Sinn der Sprache ist beschränkt auf denken und Seele. Wenn die Probleme der Selbstfindung oder der Befreiung aus elterlich statischem Zwang im Vordergrund stehen, gibt es keinen Sinn, sondern gleichsam nur ein Umrühren im psychischen Brei der Selbstkritik und des Selbstmitleids. Erst wenn die Arbeit an der Welt im Sinne der Ästhetik, der Verschönerung beginnt, dann findet der einzelne zu sich selbst und zwar jeder. Die Unterscheidung zwischen Genies und Durchschnitt, die Tatsache, dass heute nur wenige eine sinnvolle Existenz erreichen, hat ihre Ursache in der Beschränkung auf die sprachliche Überlebenssphäre und die Anerkennung der Aggression mit dem Ziel der Vernichtung des Feindes. Wenn das Tier die Zähne fletscht, greift es an; der Mensch dagegen kommt zum Lachen. Nicht der tierische Ernst, sondern der göttliche Humor ist die Sphäre der Menschlichkeit.
Gegenpol des Empfindens ist der Geist. Er ist einer anderen Sprache zugänglich, die die Welt als Chiffre versteht und deutet, wenn also die Einfälle, die Inspirationen nicht dem eigenen Denken zugerechnet werden. Geist ist immer Heiliger Geist. Was eine Gestaltung schön macht oder eine Problemlösung wahr, hat mit Ich oder Selbst nichts zu tun. Es entstammt der Fähigkeit, die Welt zu deuten, die Archetypen zu erkennen und damit die Zahlen in ihrer arithmetischen und geometrischen Gestalt.
Die Dramen des Traumes haben ihren Ursprung in den Paradigmen des Handelns, wie es die Epen und Mythen im Altertum und seit dem 19. Jahrhundert die großen Romane gezeigt haben, die uns den Reichtum menschlicher Existenz verdeutlichen. Alle Chiffren sind sowohl grammatikalisch als auch als Dichtung auf die neun Zahlen und die Null zurückzuführen. Geist wird nur zugänglich, wenn die Dynamik, das Leben auf die Zukunft hin, die Angst vor der Unsicherheit ablöst. Wer dynamisch zwischen sinnlicher Welt und Einfällen wirkt, der kann auch die tierische Ebene des Überlebens, also sein Auskommen problemlos finden. Der Wert eines Bach überschreitet materiell gesprochen im Lauf der Zeit das Bruttonationalprodukt eines Kleinstaates. Nur im Geist findet der Mensch seine unendliche Richtung. Körper und Seele haben ähnliche Bedürfnisse, beide enden im Tod. Doch der geistige Weg, der von der Frage anhebt und dem Unbekannten vertraut, führt in die andere Welt bis zur Neuen Erde.
Goethe erklärte: wer keinen Namen sich erwarb, gehört den Elementen an
. Aristoteles sprach von jenen, die an die sublunare Welt gefesselt bleiben. Der Prometheus ist sowohl das Urbild des Helden, des Abenteurers als auch des Erfinders, des Künstlers, des Heiligen und des Weisen. Weise kann jeder nur für sich selbst werden, es gibt keine Nachfolge im Stil. Doch dieser Stil, das Werk, das der einzelne der Erde übergibt, ist der Außenbau seines Wesens. Wenn er gestorben ist, dann wird er sowohl durch seine Schöpfung als auch existentiell als lebendiger Ahne weiterwirken und die Nachgeborenen befruchten.
Die fünf Stufen der Evolution sind nicht erst heute zugänglich. Seit jeher, in allen Formen des menschlichen Zusammenlebens gab es Heilige und Weise. Man kann sogar behaupten: niemals gab es eine Epoche, in der der Sinn des Lebens als Abstimmung auf die Grundtöne des Daseins weniger verstanden wurde als heute, wo die Ideale die Trendsetter und Opinionleader sind, die eine Ökonische für sich ausgemacht haben. Jeder wahrhaft geistige Mensch ist bescheiden, weil die Beschränkung im tierischen Bereich auf das Notwendige ihm ermöglicht, seine ganze Kraft für die Verwirklichung seines Geistes einzusetzen und damit ein Befreiter zu sein.
Der makrokosmische Aspekt ist die Milchstraße. Für das Bewusstsein bedeutet sie den Zusammenhang des Sonnensystems. Die Zahlen des Geistes sind in den Planeten verkörpert, und die Himmelsmechanik zwischen Sonne, Mond und Planeten, den Lichtpunkten und dem Dunkel zeigen seine Gesetze. Nur dadurch werden die Archetypen zu Sinnträgern.
Die Schicht der Sonne und des Elektrons ist die Mitte der Kosmogonie. Damit steht die erste Dimension in Symmetrie zu der dritten, das Wachen zum Traum. Das Material, woraus der Mensch seinen geistigen Inhalt beschafft, kommt aus der Imagination. Sie unterliegt nicht der Macht des Bewusstsein im seelischen Denken, sondern überfällt einen wie die freien Einfälle des Geistes. Durch die Sprache sind Geist und Empfinden zugänglich, ebenso Körper und Fühlen mittels ihrer Interpretation. Die oberste Schicht Gottes, die der Großen Singularität als nachtodliche Sphäre lässt sich aus dem Bewusstsein nur wollen. Ihre mögliche Struktur und damit das Verständnis der Synchronizität erreichen wir durch Rückbeziehung auf die symmetrische mineralische Welt. Die Neue Erde ist das Ziel unseres Daseins. Sie ist nicht in unserem Lichtmaßstab, also auch nicht irgendwo in der Galaxis, sondern in einer Umstülpung zu finden, die durch die Gesetze des Minerals verständlich wird.
Das Mineral ist in der vierten Dimension des Raumes. Die geometrische Struktur ist der Hyperkubus. Er hat sechs Flächen, acht Ecken und Richtungen, die in die Unendlichkeit weisen und das Kontinuum organisieren.
Gott ist die Null. Das Gewahrsein hat als Raster das Rad. Doch Gott ist ferner die Fähigkeit, mittels der Attraktoren das Chaos aus dem Dunkel zu organisieren, drittens ist er der Tierkreis als Urbild des Menschen im All und viertens das Einende Eine.
Gott als die Null und das Einende Eine, verlangt Glauben. Ich muss bekennen, dass es ein Wesen gibt, das mir wohl will und das ich ansprechen kann. Ich muss die Frage stellen, wieso das, was geschieht und was ich tue, für mich und andere sinnvoll ist. Ob es sinnvoll wird, das liegt nur an mir. Wenn ich mich entscheide das Dasein als Entfaltung zur Umstülpung und Wiedergeburt zu begreifen, dann gibt es Gott für mich, sonst bleibt er verborgen. Gott hat unzählige Namen. Es gibt keine Tradition, deren Quell nicht eine Gotteserfahrung war. Vom Selbst her gesehen muss diese Wahl der Existenz des Göttlichen anerkannt werden. Denn wenn man das nicht tut, dann wird ein Bewusstseinsinhalt zum falschen Gott, vereinzelt den Menschen und führt zum geistigen Tod.
Gott ist die Null als Sein, die Eins als Wesen. In mir ist die Null das Ich, die Eins das Selbst. Daher muss sich das Ich von der Vorstellung eines bleibenden Selbstbildes, wie es der rationalistischen Aufklärung zugrundeliegt, in ein leeres Organ verwandeln, indisch ahamkara, das zeitlich von Augenblick zu Augenblick eingreift, und das Selbst sich aus dem freud’schen Es der vielfältigen Motivation in die handelnde Einheit verwandeln, die nicht nach äußerer Stellung oder Erfolg strebt, sondern nach der Vereinigung mit Gott.
Im Leben hat der Wortleib den mikrokosmischen Kraftleib und den makrokosmischen Lichtleib. Im Tod fallen Kraftleib der Erde und Lichtleib des Himmels ab, ziehen sich in ihre Sphären zurück und der Wortleib führt ein Schattendasein in der Traumwelt, die von vielen Traditionen als das Fegefeuer der ewigen Wiederholung verstanden wurde. Der Tote kann weder kraftvoll handeln noch lichthaft in Kommunion mit den Wesen treten. Erst über den Umweg der irdischen Existenz werden die drei vereint.
Wie kann nun die Bekehrung, die Umwandlung des Menschen erreicht werden, damit das Ich zur nullhaften Einstimmung in den Menschen im All zur Großen Harmonie findet und sich das Selbst vom schlafenden Zeugen in den Täter verwandelt? Die Antwort finden wir in der Phänomenologie des Yoga.