Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

III. Yoga

Yoga und Philosophie

Yama heißt sich durch Askese von dem Assoziations­kreislauf zu trennen. Matthias Alexander hat es in anderem Zusammenhang als Inhibition beschrieben: man muss erst nein sagen zu einer Anregung oder einem Impuls und dann ja. Den Trieben gegenüber gilt es eine zeitweilige Enthaltsamkeit zu üben, ebenso den sinnlichen Eindrücken, die einen als bedingte Reflexe mitreißen.

Ferner soll man diese Disziplin nicht in der Öffentlichkeit üben, weil dies das schlechte Gewissen der anderen verstärkt und sie versuchen werden, einen davon abzuhalten; denn im Innersten weiß jedes Wesen, dass es früher oder später sich für einen geistigen Weg entscheiden muss, um Mensch zu werden.

Die Zweiheit des Bewusstseins links und rechts, Ich und Selbst, ist die Voraussetzung um an sich zu arbeiten. Wenn eine Disziplin mit einem vorgestellten Ziel ausgeübt wird, ist die Anstrengung umsonst, sie wird Teil des assoziativen Ablaufs. Um sich zu stärken muss man in der zweiten Stufe, Niyama, andere finden, die den gleichen Weg gehen, Bücher lesen oder Rituale suchen, die in dieser Intention geschaffen wurden. Sobald man Freunde findet, die den gleichen Weg beschreiten und nicht nur in der Kompetition leben — die Inder bezeichnen die durchschnittliche Gesellschaft als das Reich der Fische, wo der größere den kleinen frisst — dann kann man an den praktischen Teil der Übung gehen, die die Schichten der Evolution vom Mineral bis zum Menschen nachvollzieht.

Für die Erfahrung des Minerals ist Selbstorganisation die sexuelle Energie, im Yoga Kundalini oder Schlangenkraft genannt. Diese betrifft beim Menschen nicht nur die Fortpflanzung wie bei den Tieren, sondern auch die Schaffung des Wesens aus Lichtleib, Kraftleib und Wortleib. Die Haltung von Yama, Brahmacharya, wird oft als enthaltsame Keuschheit definiert. Es ist für die meisten Menschen schwer möglich, die Geschlechtsenergie des Tantra geistig zu verstehen. In der Materie ist es die Fusionsenergie der Sonne. Die zwei Protonen des Wasserstoffs schaffen in ihrer Verschmelzung den Sonnenstoff Helium und bilden die erste Schale der zwei Elektronen.

Brahmacharya heißt Meisterung der Schöpfungsenergie des Brahma, und gleichzeitig als Acharya die Fähigkeit, dieses Meisterwissen weiterzugehen. Als Mönch ist das natürlich leichter als in einer durch praktische Sorgen entfremdeten Lebensform. Der Tantrayoga, der als einziger diesen Weg beschreibt und die Erweckung der Kundalini für wichtiger hält als das Erfüllen der gesellschaftlichen Pflichten, ist immer nur von einzelnen außerhalb der Kastenordnung befolgt worden. Aber die Energie der Erdgöttin Kali lässt sich anjochen, sobald der Mensch sich aus der Illusion des Maya, des Scheins befreit.

Yoga ist das Tor zur zweiten Geburt. Hatha-Yoga heißt Vereinigung von Sonne und Mond, Pingala und Ida, im Sushumna durch die aufsteigende Schlangenkraft. Aber der Organismus in seinem mineralischen Aspekt tendiert gleich dem Atom zum Grundzustand, wie etwa eine Neonröhre die elektrische Energie, die sie aufnimmt, sofort wieder als Licht abgibt, um den Grundzustand zurückzugewinnen. Diese Trägheit kann durch die beiden Stufen von Asana und Pranayama überwunden werden, indem die Kraft aus den Assoziationen gelöst und in die Mitte des Selbst gebracht wird. Die Übungen sind seit Jahrtausenden bekannt, doch ihr Verständnis wurde erst durch die moderne Gehirnforschung zugänglich.

Die Rolle der Geschlechtsenergie als Träger des künftigen Lebenssinns hat zuerst Wilhelm Reich entdeckt; er nannte diese Energie Orgon. Die Chinesen nennen sie Chi, die Inkas Ki. Den gleichen Namen trägt das pythagoräische Zahlenkreuz als Ursprung der Kreativität, als Werkzeug des Demiurgen.

Die Kundalini schläft beim Menschen 3½-mal geringelt am Fuß der Wirbelsäule im untersten Chakra. Infolge der materiell-mineralischen Herkunft der Kundalini geschieht das Erwachen nicht von selbst, man braucht dazu die Hilfe eines anderen, weil nur von Subjekt zu Subjekt im Sinne des Wesenskreises das Selbst aus seinem Schlaf gelöst wird. Schlaf bedeutet Ruhe. So ist die erste Voraussetzung zur Stillung der Assoziationen Asana, die ruhige Körperhaltung, die diesen so entspannt wie im Tiefschlaf. Viele überlieferte Asanas ahmen die Schlafstellung von Tieren nach, weil der Mensch alle Tierformen in sich enthält. Manche sind auch pflanzlich zu verstehen. Eine Hauptasana, der Kopfstand ahmt die Pflanze nach: der Mensch wäre eine umgekehrte Pflanze im Bild des Weltenbaums, die Wurzeln im Himmel entsprechen dem Kopf, die Blüte dem Geschlecht. In der Umkehrhaltung wird der Einstieg in die pflanzliche Fähigkeit der unmittelbaren Energieaufnahme vorbereitet.

Ist die Körperruhe erreicht, dann kommt als nächster Schritt Pranayama: die Rhythmisierung des Atems, um diesen aus seiner unbewussten Mechanik zu befreien. Hierdurch wird die potentielle Energie, die Quantität des Prana vermehrt. Atemübungen stärken die Aufmerksamkeit nicht nur durch den Sauerstoff, sondern durch das bewusste Assimilieren des Chi. Prana ist dem Bewusstsein zugänglich, es lässt sich lenken, sammeln und an bestimmten Orten einsetzen.

Die Geschlechtskraft und die mannweibliche Vereinigung ist Gegenstand des Tantra. Die Lenkung des Prana ermöglicht die Lösung der Assoziationen durch das Mantra, welches beim Atmen mental gesprochen wird. Man kann durch eine sinnlose Silbenfolge eine Energiesteigerung erzielen; doch wenn ein geistiger Sinn wie ein Gebet wiederholt wird, dann erstreckt sich das Gewahrsein auch inhaltlich auf die Energie.

Yama und Niyama klären die mineralische Schicht, Asana die pflanzliche, Pranayama die tierische. Die menschliche Stufe der Evolution, die Befreiung aus dem Überlebens­drang und das Akzeptieren des Todes als positive Schwelle ist Gegenstand des Pratyahara, der Introversion oder Schildkrötenhaltung. Sprachlich ist der Mensch ein Werkzeug, in das er zwischen Traum und Wirklichkeit hineinwächst. Dessen Bild wird als Yantra bezeichnet, eine geometrische Form, in der alle Bewusstseinsinhalte um eine Mitte gegliedert werden. Es gibt zahllose Yantras. Die Grundform ist einerseits das Quadrat, andererseits das kreisförmige Mandala, wozu die Meditation des Horoskops gehört, und als Vereinigung beider das Rad, das Urchakra, das alle anderen Chakras einschließt. So wird im Yoga der Meister des Rades, Chakravartin, als Weltkaiser betrachtet. Der tibetische Heilige Milarepa nahm diese Rolle für sich in Anspruch, gerade weil er jede äußerliche Stellung verweigerte.

Im Pratyahara wird die Identifikation mit den Assoziationen endgültig gesprengt. Man muss die Gedanken wie Güterzüge vorbeirollen lassen, ohne Partei zu ergreifen. Erst nach der Loslösung wird man fähig, die drei obersten Stufen des Yogaweges, Dharana, Dhyana und Samadhi als Samyama zu integrieren.

Die nullte Dimension der Gottheit ist außerhalb der Zeit. Der Mensch der die Erleuchtung erreicht, west im ewigen Augenblick. Oft ist dieser Augenblick die Erfahrung des weißen Lichts, wie es manchen begegnet, weshalb wohl auch der Ausdruck Erleuchtung gewählt wurde. Der entscheidende Schritt ist aber die Menschwerdung aus dem Tier in der vorletzten kosmogonischen Stufe der Evolution.

Im Tier regelt die Gattungsseele in Merkwelt und Wirkwelt das angepasste Verhalten. Die Individualität ist strategisch auf das Überleben gerichtet. Beim Menschen dagegen ist die Individualität das Vermögen, aus dem Jenseits das Diesseits zu formen, aus dem Chaos den Kosmos, sobald er die Unterscheidung von rechts und links vollzogen hat.

Gemäß der jüdischen Tradition und auch der indischen ist der Mensch im Bilde Gottes, des Menschen im All, Mahapurusha geschaffen. Der Mensch im All ist Ich, nicht Selbst, welches als Teil der Emanation sich aus dem Quant über Photon, Elektron, Atom, Molekül und Mineral, Pflanze und Tier entwickelt hat. So ist der Mensch die siebte Stufe der Schöpfung, wenn auch kosmogonisch die vierte der Evolution. Alle mythischen Kosmogonien stimmen überein, dass die Kinder Gottes sich mit den Kindern der Erde paarten. Übersetzen wir diese Vorstellung in die rationale Sprache, so bedeutet es folgendes: das Selbst ist das Ergebnis der irdischen Evolution aus der Kosmogonie. Die vier Stufen des Yoga — Yama/Niyama im Mineral, Asana im Pflanzenbereich, Pranayama im Tierbereich und Pratyahara im naturmenschlichen Bereich schaffen die Voraussetzung, dass der einzelne aus Gott sein künftiges Ich empfängt, das wieder Teil des unendlichen Brahman wird, also die Kontraktion oder Integration der Schöpfung vollzieht.

Ein buddhistisches Gebet lautet: Lass mich mein Antlitz schauen, bevor ich geboren wurde. Ich ist nicht Selbst, sondern das Werkzeug des Werkes, nicht Atman sondern Ahamkara.

Das Selbst wandert durch viele Inkarnationen unter der Herrschaft des Mondes, also im mineralischen Bereich, bis einmal der Überstieg gelingt.

Jeder ist als Selbst von seinen Vorfahren und aus der Erdmutter geboren. Ihr Anliegen ist, dass er ein Strahl von der Erde zum Himmel werde über die Ichteilhabe. Solange er unter dem Mond verharrt im Wechsel von Leben und Tod, Fülle und Leere, Vollmond und Schwarzmond, trennt sich mit dem Tod das engelhafte Ich vom schattenhaften Selbst. Erst wenn der Mond sich mit der Sonne vereint und die Tierheit akzeptiert ist, wird es möglich, den Weg zur Menschwerdung sprachlich zu beschreiten.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD