Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

III. Yoga

Bewusstsein

Betrachten wir nun die vier Schichten im Großhirn:

s a g i t t a l - l a t e r a l

Wir müssen aber das Gehirn nicht geviertelt betrachten, sondern linke und rechte Hemisphäre, vordere und hintere Verbindung zwischen beiden, sie funktionieren jeweils als Hälften. Links im Wachen ist das Bewusstsein digital. Die Zeit ist wirklich, die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft noch nicht. Rechts im Traum ist der Raum wirklich als Erinnerung. Ich kann genauso trauern über ein vergangenes Ereignis wie Angst haben vor einer negativen künftigen Erwartung.

Im Wachen muss ich mich aller Vorlieben enthalten und die Sinnesdaten akzeptieren wie sie sind nach ihrem Gesetz, also für die Töne der Tonkreis, für die Farben der Farbkreis, für die Materie das periodische System der Elemente. Sie haben keine Substanz, diese liegt nur im Ich, das sie funktionell zusammenfügt.

Im Traum muss ich dessen Sprache der vier Elemente und das astrologische Körperbild als Raster kennen, die Bilder nach diesem Schlüssel interpretieren und auf die Zukunft hin deuten. Der Traum hat im Schlaf einen bestimmten Rhythmus, wie folgende Darstellung zeigt (bei acht Stunden Schlaf).

H y p n a g o g i k

Jede Nacht schläft man fünfmal. Zuerst wandert der Schwerpunkt vom Wachen hinunter in den Tiefschlaf; dann kommt noch jenseits der phänomenologischen Erfahrung der Thetatraum, ein großer Traum im Sinne von Mythos oder Märchen, dann folgt der REM-Traum mit der Tendenz der Wiederherstellung des mentalen Gleichgewichts. Danach geht es wieder zur Schwelle des Wachens, woher der Befehl zum wieder Einschlafen kommt. Die REM-Traumperioden, durch die schnelle Augenbewegung hinter den Lidern erkennbar, sind bei einem achtstündigen Schlaf steigend: 7,14, 21, 28, 35 Minuten. Währenddessen ist die Alphatätigkeit stärker als im Wachen, wie sich an den Gehirnströmen feststellen lässt.

Die Folge der Traumstufen gibt den Schlüssel zur Einweihung in die griechischen Mysterien, wie bei Asklepios in Kos, die ich in einem anderen Buch beschrieb. Das Wachen und die Vorstellung sind bewusst. Der Traum, sowohl als REM als auch als Tiefentraum und der Schlaf sind nicht bewusst, sie müssen ermittelt werden.

Betrachten wir nun diesen Zusammenhang nach dem kosmogonischen Schema, dann erfahren wir das Wachen durch die Klärung der Sinne zur unassoziativen Wahrnehmung, wie sie der Einführungsunterricht einer Kunstschule lehrt. Die Sprache verlangt Unterscheidung von Meinung und Wissen, die Traumwelt dagegen eine Interpretation. Sie ist bis heute nur therapeutisch untersucht worden, das gleiche gilt für den unbewussten Tiefschlaf. Das Gewahrsein ist die Kurve selbst.

Im Schlaf, der durch die Aufmerksamkeit in der Ruhe integriert wird, ist der Rhythmus der Deltawellen auch die Spanne, in der eine Erfahrung zur Erinnerung werden kann, zwischen 2 und 3 Sekunden. Die Schwingung von 1 Sekunde ist das Subjekt des Gewahrseins, es alterniert im Sekundenrhythmus zwischen links und rechts, Erinnerung und Beobachtung. Die Erinnerung ist Integration, sie gleicht der Oktave. Die Beobachtung macht neue potentielle Inhalte bewusst, sie hat als Rahmen den Quintenzirkel.

Die sagitale Teilung des Gehirns macht die Verschiedenheit zwischen Traum und Wachen, Raum und Zeit bewusst. Hier gilt es die rechte unterbewusste Hemisphäre zu erwecken. Die laterale Teilung trennt den vorderen Motorcortex des Wollens vom hinteren sensorischen Cortex der Integration; er bildet die Grundlage der Vorstellung. Vorne wechselt die Aufmerksamkeit zwischen rechts und links, hinten ebenfalls, aber nicht formal sondern inhaltlich. Während für das Wollen nur der Sinn entscheidet und über die Zahl ins Handeln führt, ist hinten die Ebene des Wortes und der Sprache, die Bedeutung. Bild wird zum Wort von rechts nach links (im Gehirn); Wort zum Bild von links nach rechts. Wir sind gewöhnt, die eine Richtung zu akzeptieren, nämlich Worte zu veranschaulichen, etwa bei einem Roman einen inneren Film ablaufen zu lassen. Nur die Künstler erlauben sich, die Einfälle in Wort oder Gebärde, in Gestaltung zu verwandeln. Aber wer nicht beide Richtungen kennt, ist nicht imstande, seinen Geist als Sahasrara zu integrieren.

Wahnsinn entsteht, wenn Traumerlebnisse nicht mit dem Wachen zu versöhnen sind. Man könnte den Wahnsinnigen aber dem Stumpfsinnigen gegenüberstellen, wenn einer überhaupt an keine Begeisterung, an keine Phantasie herankommt.

Die Stufen von empfinden und denken sind bewusst in der linken Hemisphäre; im Körper werden sie nach der Geburt integriert. Ab dem Fühlen sind die Chakras oberhalb des Bewusstseins. So bedeutet die Beschränkung auf den Rationalismus wie im logischen Positivismus eine mangelnde Integration.

In der Traumwelt ist das Subjekt das Selbst, in der Wachwelt das Ich. Beides sind verschiedene Personen. Die Raumperson ist das Selbst, das seit der Schöpfung als Quant existiert; die Zeitperson ist das Ich, dessen Existenz zwischen Geburt und Tod besteht, das aber den Überstieg in die göttliche Welt des Gewahrseins schaffen kann. Seele und Geist, also der Kopf — das Vishuddhachakra ist noch im Nacken — sind nicht persönlich sondern überpersönlich. In der physiologischen embryonalen Entwicklung haben sie als Befruchtung und Polarisation noch keine Individualität. Diese beginnt mit der Oktavierung der Urzelle, die sich dann später nach Maßgabe der drei Keimblätter entfaltet. So gibt es in der embryonalen Entfaltung fünf Stufen, die zu den fünf Sinnen der Erfahrung werden:

  • sehen für empfinden,
  • riechen für denken,
  • schmecken für fühlen,
  • hören für wollen und
  • tasten für den Körper.

Seele und Geist gehören einem höheren Zusammenhang an. In der Oktavierung der fünfstufigen Skala wird das Sehen zum Lesen, aus dem Riechen entsteht das Sprechen.

Der Buddhismus hat die Zweiheit der Sinne passiv und aktiv verstanden. Tatsächlich aber steht durch das Begeistern der energetische Kraftleib, durch das Führen der Lichtleib im Vordergrund. Beide umgeben den Körper gleich einer Aura, wenn der Sinn des Schreibens im höheren Selbst den Wortleib schafft, der als einziger der Entwicklung fähig ist.

Fühlen, empfinden und wollen kennen keine Entwicklung. Das Wollen führt zu einer höheren Integration, das Empfinden zur Verfeinerung der Sinne, das Fühlen zur Läuterung der Triebe. Nur das Denken wird durch das Gedächtnis von weniger zu mehr. Der Körper ist zu akzeptieren in seinem Grundzustand, der Geist ist Teilhabe am Weltgeist oder Zeitgeist. Nur die Seele kann durch die beiden neuen Leiber — Kraftleib und Lichtleib, begeistern und führen — das Wesen erschaffen.

Während des irdischen Daseins sind die vier Funktionen getrennt. Nach dem Tod kommt man wie bei den Schlafperioden an das Wachen immer nur gerade heran, hat aber nicht die Möglichkeit zu wirken. Nach der Geburt ist man über Denken und Empfinden im Bewusstsein, hat aber die Herkunft und Zukunft vergessen; man betrachtet die Möglichkeit nicht als Jenseits, sondern als Ergänzung des Gegebenen.

Der Wortleib des Schreibens und Gestaltens, der allein in der Wassermannzeit zur Unsterblichkeit führt, ist nicht mehr instinktiv oder meditativ zu entfalten. Er verlangt das Wagnis, die Initiation, das Bekenntnis zu einer Rolle im Werk.

Bei den Sprachstufen des ersten Kapitels ist dies offensichtlich. Das Kind lebt noch ganz in der rechten Hemisphäre, aber es spielt Wirklichkeit in der linken: Doktor, Lokomotive; keine Mythen. Es will in die linke, weiß aber, dass es noch nicht dazu fähig ist. Der Arterhaltungsinstinkt verlangt in einem gewissen Alter die Verschiebung nach links, das Erlernen der soziokulturellen Tradition, was immer diese sei; in heutiger Sprache die Aneignung des local cultural consensus, bei den Stammeskulturen die Initiation anlässlich der Pubertät.

Diese neue Bewusstheit umfasst Seele und Geist, die beiden Teile des Menschen, die nicht individuell sind. Die meisten kommen aus dem einmal erlernten Spiel dieses Consensus zu Lebzeiten nicht mehr heraus.

Aber in der Wassermannzeit muss jeder Mensch zum Erfinder seinen eigenen Spiels werden; in mittelalterlicher Sprache ein Meister, nicht ein Doktor. Der Lehrling hat seinen Schwerpunkt im Körper, der Geselle bewährt sich seelisch. Der Meister verwendet sein Wissen kreativ und kann lehren: er findet zur rechten Hemisphäre zurück.

Der Meister wird nicht wie heute im Handwerk von außen geprüft; dieses hat seine geistige Bedeutung des Compagnonage verloren. Er ernennt sich selbst dazu, wie es der Satori im Zenbuddhismus zeigt. Erst als Meister ist er ein Peer, ein Gleicher. Vor der Meisterschaft ist die menschliche Ebene noch nicht erreicht, man wird aus dem Menschentier gesteuert.

Die Teilhabe am Werk verlangt die Rückkehr zur nullten Dimension. Selbst und Ich, die im Geist noch getrennt waren, werden im Wesen zusammengefügt.

Betrachten wir nun die Gehirnströme im Verhältnis zu den Dimensionen und Bewusstseinsschichten:

Wachen
Vorstellung
Traum
Schlaf
Gewahrsein
Beta
Alpha
Theta
Delta
Urschwingung
ab 16 Hertz
8 - 15 Hertz
4 - 7 Hertz
2 - 3 Hertz
0 - 1 Hertz

Das Gewahrsein steht als Erleben des Göttlichen der gesamten Skala subjekthaft gegenüber, verwendet sie wie eine Klaviatur. Im vierfältigen Geist sind die Gebiete und Schichten noch getrennt wie in der Sprache. Im Gewahrsein werden sie achtfältig vereint. So entspricht die Reihe der Bereiche den Funktionen:

1 Lot, ganzzahlig, empfinden
2 Lote, Fläche, denken
4 Lote, fühlen,
8 Lote, wollen,
eine Richtung, Körper
zwei Richtungen, Seele
vier Richtungen, Geist
acht Richtungen, Gewahrsein.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD