Schule des Rades
Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens
IV. I Ging
Buch der Wandlungen
Die ersten drei Kapitel bestimmen die Theorie des Rades: Das erste die Semiotik der Sprache, das zweite die Kosmogonie der Materie und das dritte die Klärung des Gewahrseins im Yoga. Die weiteren drei Kapitel zeigen die Praxis; im vierten Kapitel die von China entdeckten Wandlungen, im fünften die in Babylon von den Chaldäern entwickelte Astrologie und im sechsten die von den Juden entdeckten Sefiroth der Kabbala, deren Übungsaspekt ich im Divinatorischen Meisterspiel artikuliert habe.
Wie im indischen Yoga verwenden wir auch im chinesischen Buch der Wandlungen dessen Begriffe, weil es auf deutsch keine genauen Entsprechungen gibt. Die Bedeutungen weichen deswegen ab, weil chinesisch eine Bildsprache und nicht eine Lautsprache ist und der I Ging im Gehirnschema an die Stelle der Grammatik tritt:
Auf deutsch wird der Hinweis durch die Laute, die 54 Mitlaute und die 5 Selbstlaute mit den Umlauten bestimmt: das Lautgebilde ist der Sinnträger und die Bedeutung. Auf chinesisch wird ein Ideogramm unbegrifflich aus Strichen geschaffen, im höchsten Fall fünf. Der Wortschatz ist bei beiden gleich, siebenhundert Worte zum Zurechtfinden, dreitausend zum Bewähren, zehntausend für die Bildung und sechzigtausend beim großen Dichter, darüber hinaus das wissenschaftliche und technische Vokabular, dass schier unendlich ist.
Die Wortwurzeln bestimmen den dichterischen Traumschlüssel, die bevorzugten Assoziationen, die sich nicht ganz in andere Sprachen übersetzen lassen und teils historisch, teils zufällig sind. Die Chinesen verwenden die Natursymbolik, um den Einklang zu wahren. Diese wird durch die Etikette für nicht erfahrbare Zusammenhänge wie menschliche Sitten ergänzt, welch letztere sich nach Maßgabe der Geschichte ändern.
Die Information und Syntax ist im deutschen Bereich analytisch. Man zerlegt eine Idee in die syntaktischen Bestandteile — Subjekt, Prädikat, Attribut, Komplement — nach Maßgabe der Wortarten und natürlichen Zahlen, wie wir es im ersten Kapitel dargestellt haben. Auf chinesisch steht dagegen die synthetische Information, die bei uns als Sprichwortweisheit der Grammatik untergeordnet ist: früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will; unrecht Gut gedeihet nicht.
Der Sinn der analytischen Information ist eindeutig, die Aussage zielt auf ein Wissen, eine feststehende Beziehung im Wandel. Auf chinesisch ist nicht die eindeutige Information das Ziel, sondern das sinngemäße Verhalten und die Geschichte; die Einmaligkeit, nicht die Wiederholbarkeit wird zum Paradigma. Jede sprichwortartige Interpretation ist berechtigt.
Auf deutsch ist die lutherische Bibel oder auch jedes Lehrbuch der Physik maßgebend und wird nur unter Schwierigkeiten anders interpretiert. Auf chinesisch ist sogar das heiligste Buch, der I Ging, beliebig interpretierbar, solange es zur richtigen Einstimmung des Menschen zwischen Sinn und Leben, Tao und Te führen kann.
Auf deutsch ist die Grammatik entscheidend. Die deutsche Hochsprache verdankt ihre Struktur Martin Luthers Bibelübersetzung, also dem jüdischen; der grammatikalischen Begriffsbestimmung von Kant und dem dichterischen Reichtum — sechzigtausend Worte — von Goethe, an welche sich viele andere Sprachschöpfer bis zu Wittgenstein und den Naturwissenschaftlern angereiht haben.
Die chinesische Sprache geht nicht vom Sein, sondern vom Werden aus. An die Stelle der Grammatik tritt das Buch der Wandlungen, der I Ging. Er wurde von einem Paar, Fu Hi und Nü-Kua, zwei Wesen mit Schlangenleibern in mythischer Zeit geschaffen. Sie erfanden die Trigramme und Hexagramme. Die Deutung und die Urteile schufen König Wen und der Herzog von Dschou im 13. vorchristlichen Jahrhundert. Seine Reihenfolge im vorweltlichen Himmel gestaltete die kosmogonisch ausgerichtete Schang-Dynastie, von 1100 bis 500 die Dschou-Dynastie, danach kamen die Kommentare von Konfuzius, die sich bis zum Beginn der Fischezeit festigten. Seit der Kulturrevolution des Kanzlers Ssi Me des Tyrannen Huang Ti herrschte bis 1911 der Konfuzianismus, dessen Gegenpol der Taoismus und Buddhismus wurden.
In der neuentstehenden Welt der Wassermannzeit ist nun der I Ging in das deutsche Bewusstsein eingetreten, vor allem durch die Übersetzung von Richard Wilhelm. Wir wollen aber den ursprünglichen Zusammenhang dieses Denkens im Rahmen der Weisheit von Sonne, Mond und Erde entschlüsseln, wobei der Schwerpunkt auf dem Mond liegt.
In der Darstellung der Chakras ist die Sonne in der Mitte. Der Mensch hat von der Erde den Kraftleib, von der Sonne den Lichtleib und aus eigener Kraft den Wortleib, der ihn durch die Dreiheit der Denkplaneten und Wollensimpulse zur Wiedergeburt auf der Neuen Erde führen soll.
In der wilhelmschen Übersetzung ist Tao Sinn und Te Leben. Der I Ging ist das Gesetz des Lebens. Daher ist der entscheidende Faktor nicht die Sonne, sondern der Mond.
Betrachten wir den Mond als Träger der Urkraft und die Sonne als Symbol des Urlichts, so ermöglicht der Mond die Wandlung, die auf das Sein der Sonne bezogen und gerichtet ist.
Der Ursprung des Lebens ist mikrokosmisch der genetische Code. Dieser beruht auf den vier Nukleotiden, die als Speicher, Träger des Wachstums, oder als Grundlage der Vermehrung gelten, RNS und DNS. Sie beruhen auf zwei verschiedenen Prinzipien, dargestellt als Yang, ganzer Strich und Yin, gebrochener Strich. Dass diese Darstellung nicht nur symbolisch ist sondern der materiellen Wirklichkeit entspricht, zeigt das erste Photo eines Gens im Buch von Watson über die Entdeckung des Doppelhelix.
Die Nukleotiden vereinen sich zu Triplets, zu Trigrammen, und aus ihnen entstehen die 64 Urworte des Lebens, die für alle Erscheinungen gültig sind.
Während also die Grammatik des ersten Kapitels die Sprache der menschlichen Kommunikation ist, zeigt der I Ging die Grammatik des Lebens, dessen Alphabet die Nukleotiden und dessen Wortschatz die 64 Hexagramme sind. Martin Schönberger hat beide gleichzusetzen versucht und damit eine mögliche Übersicht geschaffen.
Die Interpretationen von Granet, Wilhelm, Fiedeler und Needham kommen aus einem wissenschaftlich historischen Ansatz. Anders interpretiert wurde das Buch unter der Schang-Dynastie, wieder anders unter der Chou-Dynastie oder im Konfuzianismus. Hier handelt es sich darum, diese Sprache dem Rad als Raster des globalen Verstehens einzugliedern. So verlasse ich hiermit den historisch-wissenschaftlichen Rahmen und wende mich der Art und Weise zu, wie die Grundbegriffe aus dem Rad zu bestimmen sind.