Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

V. Astrologie

Mensch im All

Das Ziel des Buchs der Wandlungen ist das Schöpferische, die im Osten aufgehende Sonne. Der I Ging zeigt den Weg der Entfaltung des Mondes durch die Keime im Westen. Die Konstellationen des Nachthimmels sind in Entsprechung zu den Konfigurationen des genetischen Codes, und das Leben entfaltet sich zwischen diesen beiden.

Aber der Mensch hat zwei Ursprünge: einen irdischen und einen himmlischen. In den meisten Religionen ist der Mensch im Bilde Gottes, des Menschen im All geschaffen, und sein Weg zielt auf die Vereinigung mit dem Göttlichen auf der Neuen Erde. Im seelischen Zeichen Krebs ist es die Entfaltung aus der embryonalen Welt bis zur Kreativität, im Körperzeichen Löwe der Sonne ist das Ziel, die Faktoren und Komponenten des Wesens zu bestimmen und zu integrieren. Das Selbst kommt immer wieder auf die Erde. Bei der Geburt vereint sich der Lichtleib des Ich mit dem Kraftleib des Selbst, das seit Beginn der Schöpfung über alle Stufen der Emanation bis zum Mineral, und von dort wieder hinauf über Pflanze und Tier bis zum Menschen entfaltet wurde. Erst hier tritt nun zu Ich und Selbst das mögliche Wesen, das Teil des Großen Ich Gottes werden kann.

Der Mensch im All ist Ich; jedes Ich hat im Sein an ihm Teil. Aber das Wesen ist nicht die Psyche, sondern der historische Aspekt des Lebens, jener Teil, der im Werk als Wortleib inkarniert wird; das Geschehen wird zur Geschichte.

Beim Tode bleibt aus den Leiden der früheren Inkarnation in der Traumwelt die Motivation. Kurz vor der Empfängnis kommt nach islamischer Überlieferung die Begegnung mit Gott oder dem Engel, dem Licht der Erkenntnis des neuen Weges. Diese Erinnerung geht im Geburtsakt verloren und wird erst viel später in der zweiten Geburt wieder erinnert: die Anamnese des Sokrates. In der Maieutik gilt es nun, diese zweite Person, also das Wesen, zum Träger der Lebenslinie zu erheben. Das Selbst oder das Ich allein, Neigungen oder Ziele, die auf Erfolg gerichtet sind, schaffen keine Dauer.

In den Zeitdimensionen ist das Göttliche die ewige Dauer des Augenblicks. Einen bestimmbaren Augenblick gibt es im Leben: es ist die physische Geburt, der erste Atemzug. In diesem Moment stehen die Sonne und die Planeten mit dem Tierkreis, Häuserkreis in einer gewissen Verknüpfung. Diese ermöglicht uns, den assoziativen Nebel des Gemüts in den Diamantleib des Wesens zu verwandeln. Die Anzahl der Komponenten ist begrenzt. Im göttlichen Kegelspiel heißt es, die neun Planeten mit der Sonnenkugel umzustoßen, damit sie nicht das Wesen der Planetenstrahlung unterordnen, die letztlich nur geborgtes Licht ist.

Der Mensch beginnt seine Existenz im Mond, wo er die Lebenskraft durch neun Monate entfaltet, auf dass sie für eine bestimmte Daseinsspanne ausreicht. Erst außerhalb des Mutterleibes erlebt das Kind den Tag und die Sonne, und kommt in die beiden gegensätzlichen Kreisläufe: Tag und Menschheitsgeschichte im Weltenjahr im Uhrzeigersinn, Jahr und Lebenskreis gegen den Uhrzeigersinn. Die Anlage jedes Menschen, nulldimensional als Gewahrsein des Rades, ist das Horoskop, griechisch der Gott, der die Stunde anschaut.

2340 v. Chr., zwanzig Jahre nach Beginn der Widderzeit, schufen die Chaldäer den geometrischen Tierkreis mit 360°, indem sie zu den bis dahin bekannten elf Konstellationen die Waage aus den Scheren des Skorpions hinzufügten. Das erste himmlische Drama war das Gilgamesch Epos, das zeigt, wie sich der unsterbliche Geist mit dem irdischen Körper, Gilgamesch mit Enkidu, vereinen sollte.

Das Sonnensystem im Rahmen der Milchstraße, bezogen auf deren Zentrum, ist ein Erzeugnis der vier Mächte des Chaos, der Attraktoren. Keiner der Planeten ist in seiner Grundstellung in Resonanz mit einem anderen. Nur die Bahn, die durch 3/2 : 1 gekennzeichnet ist, der Tierkreis oder Quintenzirkel, ist stabil. Alle anderen Resonanzen sind labil, bleiben nur für kurze Zeit. Im Horoskop hat nun der einzelne die Möglichkeit, seine Zeit zu verräumlichen und zu kosmisieren, gleichsam zu mineralisieren. Die geometrischen Formen sind der Baugrund des Wesens, wie er das erste Mal in den megalithischen Bauten, später in Ägypten und Südamerika in den Pyramiden veranschaulicht wurde.

Das Horoskop ist ein Werkzeug. Es zeigt den geometrisch-arithmetischen raumzeitlichen Takt, in dem beliebige Rhythmen und Melodien einzufügen sind. Für den Tiermenschen besteht vollständige Determination, da hat die sogenannt wissenschaftliche Astrologie ihre Gültigkeit. Aber der Tiermensch ist unterhalb des Tieres, er ist eigentlich ein Untier, wie wir es in der jüngsten Vergangenheit erlebten. Nur als Gottmensch kann er seine Bestimmung erfüllen. Hier ist die deutsche Sprache bildhaft richtig: das Wesen ist die Stimme. Während der Traumexistenz im Limbo fehlt die Lichtaura, wie die Erfahrungen klinisch Toter schildern. Nur die Heiligen können sie mit ins Jenseits nehmen und ihren Raumkörper im historischen Werk fixieren, indem sie zu Ahnen werden.

Wo Resonanzen sind, kann man harmonisierend eingreifen. Die Resonanzen zwischen den Planeten sind musikalisch-geometrisch zu verstehen. Dreiecksbeziehungen bedeuten Funktionsgleichheit, sie wirken zusammen — traditionell Erde-empfinden, Luft-denken, Wasser-fühlen und Feuer-wollen. Vierecks-Kreuzbeziehungen gehören zu den Bereichen, traditionell fix-Körper, kardinal-Seele, und labil-Geist. Dreieck und Sechseck sind Fähigkeiten, musikalisch große Terz und große Sekund, geometrisch Trigon und Sextil. Im Kreuzaspekt ist die kleine Terz, geometrisch das Quadrat, im Bereich von Körper, Seele oder Geist. Trigon und Sextil zeichnen wir als Empfindungsaspekte grün, Quadrat als Gefühlsaspekt rot. Das Rot entstammt dem Skorpion, geht von einem Mangel und Trieb aus, das Grün entstammt dem Stier.

Halbsextile und Quinten oder Quarten sind blaue Denkaspekte, sie wechseln von Zeichen zu Zeichen im Sinne des 3/2 — Rhythmus des Quintenzirkels, also der stabilen Bahn des Tierkreises, worin alle Planeten verlaufen; ebenso der Quincunx, die große Septime oder Halbtonschritt. Funktionsgleiche Aspekte ergänzen einander immer zu 180°, dies ist der Wollensaspekt (Opposition), den wir ebenso wie die Konjunktion goldgelb zeichnen.

Wenn Planeten zusammenstehen, sind sie als Komplex stärker als das Ich, wenn sie nicht auf die Mitte des Selbst, im Horoskop die Erdmitte, zurückbezogen werden. Dies ist der Sinn des Horoskops, seine Mitte ist also nicht der Geburtsort, sondern das Erdzentrum.

Erst in der Wassermannzeit wird das Horoskop zum Ausgangspunkt der Entfaltung des Wesens, zum möglichen Sinn. Aber dieser Sinn ist eine freie Wahl aus dem Westen. Das Sternbild Waage symbolisiert das Totengericht. Nach dem Tode richtet uns aber keine Wesenheit, da Gott die Liebe ist, sondern man sich selbst. Man erfährt, dass man noch nicht imstande ist, im Licht zu leben, und was dazu fehlt.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
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