Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

I. Semiotik

Wortarten im Enneagramm

Viele unterscheiden nicht zwischen ganzen und natürlichen Zahlen. Aber die echten natürlichen Zahlen haben keine Ausdehnung. Ihr Ursprung ist in den neun Ziffern und der Null. Deren Zusammenhang wurde im Islam entdeckt und von Gurdjieff im Enneagramm überliefert, das der Schlüssel zur Grammatik ist.

Die Figur besteht aus zwei Linienzusammenhängen, die die Division der neun Ziffern veranschaulichen.

Teile ich die Ziffern durch 9, dann entsteht ein unendlicher Bruch mit der Ziffer als Teiler, also als qualitative invariante Wirkweise:

  • 1 : 9 = 0,11111,
  • 2 : 9 = 0,22222,
  • 3 : 9 = 0,33333 usw.

Teile ich sie durch 3, dann entstehen 3 und 6 als unendlicher Bruch:

  • 1 : 3 = 0,33333,
  • 2 : 3 = 0,66666,
  • 4 : 3 = 1,33333.

Teile ich die Ziffern durch 7, dann entsteht die mannigfaltige Figur als periodischer Bruch, der je nach Teiler mit einer anderen Ziffer beginnt:

  • 1 : 7 = 0,142857 142857……,
  • 2 : 7 = 0,285714 285714……,
  • 3 : 7 = 0,428571 428571…… usw.

Die Grammatik des Enneagramm ist die Grundlage der Vernunft als Urbild des Denkens. Das Dreieck bestimmt die Zeitworte, die mannigfaltige Figur die Raumworte.

W o r t a r t e n · i m · E n n e a g r a m m

Gegenüber der 9 ist die 0. Sie bestimmt den Satzbau, das heißt das Sein des Satzes. Jeder Satz ist letztlich eine prädikative Aussage oder kann in diese überführt werden, wie das Beispiel von Frege zeigt. Der Satz Mein Vater starb gestern wird in folgender Form als Urteil verifizierbar: Der gestrige Tod meines Vaters ist eine Tatsache. Damit ist das Gegenteil falsch und es gibt innerhalb des Satzrahmens keine dritte Alternative. Der Satz ist logisch korrekt und kann als Gedächtnis zum abrufbaren Wissen werden.

Was ist nun die Beziehung von der Ziffer zum Wort? Der Syllogismus ist dreifältig, die Gleichung ebenfalls. Links ist die Analyse, rechts die Synthese: 3 × 4 = 12. Daher kann uns die Fläche — drei Punkte beliebig aufeinander bezogen schaffen die Ebene — zeigen, wie es sich mit dem analytischen Ich und dem synthetischen Selbst verhält. Kant hatte erklärt, die Grundlage aller Philosophie sei die Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Ein analytisches Urteil wie der Syllogismus — Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch; also ist Sokrates sterblich — ist ein Erläuterungsurteil. In der Prämisse, dem Obersatz, ist die Verallgemeinerung potentiell enthalten, man lernt nichts Neues. Dagegen ist der Satz Gold wird in Sibirien gefunden synthetisch, denn aus dem Begriff Sibirien lässt sich Gold nicht ableiten. Der Syllogismus ist a priori, nicht aus der Erfahrung gewonnen, das zweite synthetische Erweiterungsurteil a posteriori, aus der Erfahrung.

a priori kann ein synthetisches Urteil nur gebildet werden durch die Zahl, wenn ich dem arithmetischen, also zeitlichen Charakter der Aussage dem geometrischen, raumhaften Aspekt, die Anschauung hinzufüge. Kants Beispiel lautet: Aus Fünfeck und Siebeneck lässt sich das Zwölfeck nicht visuell ableiten. Somit ist die Zahl das Urbild des synthetischen Urteil a priori und damit der Grund des Wollens. Die Aufmerksamkeit, die sich auf den Zusammenhang richtet, ist nullhaft, leer, dagegen die Synthese, die Bedeutung, die ich erkenne oder schaffe, Teil der Fülle.

Die Ziffern werden im Denken zusammengefügt und schaffen gleichsam eine Melodie des Sinnes. Quantität ist Qualität: dieses Axiom der Esoterik führt zur theosophischen Addition, der Quersumme, mittels welcher jede Zahl auf eine der neun Ziffern zurückgeführt wird. 365 = 3 + 6 + 5 = 14 = 5.

Sobald ich alle Zahlen über die Quersumme auf eine der neun Ziffern zurückführe — die Addition ergibt niemals 0 — dann kann ich mein Ich, mein zeithaftes Handeln, meinem Selbst dem Ruhenden im Wandel eingliedern und dadurch als Wesen, als geprägtes Sein mit dem Ursein nullhaft in Beziehung treten. Der Begriff Sein ist sprachlich die prädikative Aussage in der Copula, die dem Bedeutungsinhalt nichts hinzufügt. Bildhaft sind die Urteile Die Rose ist rot und das Subjekt-Attributpaar rote Rose identisch, weshalb viele Sprachen, wie russisch und ungarisch, die Copula nicht verwenden und überflüssig finden. Das ist sie aber nicht. Nur durch die Copula wird der Satz logisch verifizierbar und damit zum echten Wissen, das im Sinne des Realismus des mittelalterlichen Universalienstreites ewig gültig ist.

Kant hatte die letzte Schlussfolgerung aus seinem synthetischen Urteil a priori nicht gezogen. Er nahm anstelle der Ziffern als Archetypen, wie sie die jüdische Kabbala als Namen Gottes verstand, eine künstliche Kategorientafel, die zwar Ordnung schuf, aber durch spätere Synthesen überholt wurde, wie ich in meiner Geschichte der Denkstile dargestellt habe.

Die Reinheit der Ziffern als sinnschaffende Bedeutungsträger habe ich als erster in meinem Buch Das Rosenkreuz 1956 dargestellt. Diese Entdeckung war der entscheidende kritische Schritt: er ermöglicht, alle vorläufigen Bedeutungen auf den nullhaften Sinn zurückzuführen und damit sowohl falsche Ichbilder als auch falsche Gottesvorstellungen und Ideologien zu transzendieren.

Jede der Ziffern hat eine eigene geometrische Figur, sie ist ein Wirkfaktor, und dieser Wirkfaktor ist das Prinzip aller weiteren, die sich auf ihn zurückführen und von ihm ableiten lassen. Damit wird das Wissen zur Weisheit; über die Null, also das Nichts, wird der Zusammenhang mit dem Wesen und damit mit Gott geschaffen. Die natürlichen Zahlen sind die rationes seminales, die keimhaften Urgründe, und ihr Zusammenhang ist der Urcode der Semiotik.

  • Eins ist ein Punkt und bestimmt das Bindewort.
  • Zwei ist eine Strecke und Matrix des Hauptwortes.
  • Drei ist das Dreieck und Urbild des Zeitwortes und der Bewegung.
  • Vier ist das Quadrat und das Modul des Verhältniswortes mit der Deklination.
  • Fünf, der Stern des Menschen im Pentagramm, ist die Struktur des Eigenschaftswortes.
  • Sechs, der Davidstern als Urbild einer auf Gott bezogenen Gemeinschaft, zeigt die Personen des Zeitwortes in ihrer Gegenüberstellung von Einzahl und Mehrzahl.
  • Sieben, nicht mit Zirkel und Lineal konstruierbar, zeigt den Ort der reinen Kraft im Fürwort, das im Fragewort gipfelt.
  • Acht, das Achteck bestimmt die Umstände in den Kategorien des Umstandswortes.
  • Neun ist die Systemik der Zeitwortformen, und
  • Null ist der dreifältig zu verstehende Satz: als Aussagesatz, Sollsatz oder Fragesatz.

Betrachten wir nun die Ziffern im einzelnen.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
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