Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

Schlusswort

Durchbruch zum Wesen

Mit dem Meisterspiel ist das Organon des Rades mit den Kriterien der Magie abgeschlossen. Ich nahm das Nachtwissen als Ausgangspunkt, um das Tagwissen auf die Ganzheit abzustimmen. Den Ansatz bildete das Heldenepos des Kesar Ling als dichterische Fassung des Nachtwissens.

Das Tagwissen darf nie zum Ziel des Daseins werden, wie das achte Kapitel der Bhagavad Gita lehrt, sonst verführt es den Menschen zur Reinkarnation, und das nächste Leben wird zum Spiegel der Motivation des vergangenen, bis einmal die Erleuchtung den Durchbruch zum Wesen ermöglicht.

Dieser Durchbruch wird im Zeichen der Waage erreicht. Nur Neptun als sechster Planet verbindet die Kreissehnen der solaren Zeichen mit dem Selbst der Mitte.

Der Tag der Waage war bei den Germanen das Walifest, bei den Juden Yom Kippur, die Versöhnung, da alle Schulden beglichen oder nicht mehr eingefordert werden sollten. Der persönliche Häuser- und Lebenskreis wurde zu Beginn der Widderzeit von den Chaldäern mit der Versetzung der Gerechtigkeit als Sternbild der Waage an den Himmel fixiert.

Die Sprache ist einerseits die technische Fähigkeit des Menschen. Laute und Zeichen wurden zu Werkzeugen, die zu vielen Zwecken und Nutzen eingesetzt werden konnten. Im Rad ist die Achse von Seele und denken, des Bewusstseins-Attraktors rational, sie geht durch die Mitte des Selbstes, ebenso wie die Achse der Selbstorganisation vom Wollen zum Gewahrsein. Letzteres Inbegriffspaar ist außerhalb der Zeit, Seele und denken innerhalb. Es ist astrologisch das Tierkreisbild der Waage, Seele-denken, und des Hauses von Ehe und Gemeinschaft. Fast überall hat sich der tatsächliche Jahresbeginn von Ostern und dem bürgerlichen Neujahr auf Ende September verlagert, was die Franzosen so treffend als la rentree bezeichnen; als Wiederbeginn des Schuljahres und auch des gesellschaftlichen Lebens nach der Sommerpause.

Der Mond geht vom Selbst aus. Er beschreitet den ganzen Himmel und wird im Neumond, der Konjunktion mit der Sonne, zu einem neuen Themenkreis wiedergeboren. Die Sonne dagegen schafft die Zweiheit von Tag und Nacht, Ja und Nein. Wenn die Sonne strahlt, dann ist der Nachthimmel, also die Sphäre der Inspiration nicht mehr zugänglich, sondern die Aufmerksamkeit richtet sich auf Allfälliges, auf einsichtige Probleme und deren mögliche Lösung, die gemeinschaftlich und öffentlich vom Ich aus angegangen wird.

In der Geschichte waren Religion und Recht identisch. Dharma, Tora, Li prägen sowohl das gemeinschaftliche als auch das persönliche Dasein, gehen aber von der Gemeinschaft aus. Nur Neptun als sechster Planet weist in die Mitte des Rades und der entsprechende Intervall, das Sextil oder die große Sekund, ist als Ganztonschritt das Urbild allen Handelns aus dem Wollen: einmal links, einmal rechts, wechselnd zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Aber jene Gemeinschaft, die nicht auf das Göttliche und damit auf Rta und den Thing ab gestimmt ist, auf das heilige Rad des Gesetzes der Indianer, versinnbildlicht im Steinkreis, fällt der Vernichtung anheim.

Das Nachtwissen in seiner Intimität, in der Esoterik kann den einzelnen auch in Fährnissen zu seinem Heil, seiner Ganzheit führen. Aber die Esoterik genügt nicht zum Ersteigen des Himmels, zum Einstieg in die Neue Erde. Das Jüngste Gericht ist nicht mehr unbegreifliches Ende dieser Welt wie für Christentum und Islam. Es ist das innerliche Problem, ob sich der Schwerpunkt des Wesens wie im ägyptischen Totengericht von der Selbstsucht auf die Liebe, vom privaten zum gesellschaftlichen Einsatz verlagert.

Die bisherigen Weltenmonate vom Krebs bis zu den Fischen warfen mit jeder neuen Offenbarung die vorherige über Bord. Die Juden richteten sich gegen das goldene Kalb als Sinnbild des Stiers, die Christen gegen die jüdische Gesetzesfrömmigkeit des Widders im Namen der reuigen Sünder, der Islam gegen die Volksreligionen, und schließlich am Ende der Fischezeit die gegensätzlichen Ideologien von Kapitalismus und Kommunismus gegen jeglichen Persönlichkeitskult der Fische, gegen Herrschaft von Hierarchie und Besitz, zur Befreiung des biologischen Menschen und damit zur Wiederbewertung der Frau. Der antiideologische Kampf ist vorbei. Die Postulate der Demokratie, der Selbstbestimmung und der Menschenrechte sind aktuell oder virtuell überall anerkannt; die Erde im Kosmos ist eine Einheit geworden.

Aber damit wird die Verantwortung für die Gerechtigkeit entscheidend. Es muss ein neues Dharma erscheinen, das sich als das älteste offenbart: das Rad, die Gesetze von Zahl, Zeit und Raum als Parameter einer Ichentfaltung, die ihre Wurzeln im Selbst anerkennt und von der Anlage ansetzt. Das wahre Subjekt ist keine Abstraktion, der Mensch im All ist jedes Ich. Anders ausgedrückt: das Selbst wird nur in dem Maße zum Ich, wie es seine Teilhabe am Menschen im All nicht nur bekennt, sondern auch im alltäglichen Sinn der Methexis vollzieht.

Im Verhältnis von Recht und Religion unterscheidet man drei Stufen: Naturreligion, Volksreligion und Weltreligion.

In der Naturreligion erfließt die Gemeinschaft aus der schamanischen Fähigkeit ihres Führers, den Arterhaltungsinstinkt in der soziokulturellen Tradition zu artikulieren, im Klan- oder Stammesritual. Man erfährt Rat und Einsicht aus Visionen und den Botschaften anderer Wesen des All, der Geister und Ahnen. Man weiß zwar von der Existenz Gottes; doch er ist in den Worten von Mircea Eliade ein deus otiosus, ein müßiger Gott. Er hat keinen Anteil mehr an der Welt, sein Werk ist mit der Schöpfung getan.

Nach Beginn der Schrift entfalten die Götter ihre Hierarchie, sie werden zu Mythen des Tierkreises, dessen reine Form verloren geht. Volksreligion ist gemeinsame Liturgie und Kultus.

Die Sünden gegen die Naturreligion beziehen sich auf die Grundbedürfnisse des einzelnen und der Gemeinschaft, im matriarchalen Zyklus der Jahreszeiten. In der patriarchalischen Volksreligion der Widderzeit wird die Einheit zwischen Mensch und Göttern als personifizierte Aufgabe mythisch, also dichterisch gelebt. Wer sich gegen die Volkseinheit versündigt, wird genauso bestraft wie jener in der Naturreligion, der ein Tabu oder Totem verletzt. Die Götter bis zum Volksgott Israels sind anzuerkennen; sie werden anstelle jener anderer Völker in den Vordergrund gerückt, unterliegen dem Wechsel der Äonen, wie bei den Griechen die Folge Gaia, Uranos, Kronos und Zeus.

Der mythische Mensch hat sein Vorbild in paradigmatischen Bildern. Er opfert den Göttern, auf dass sie, die Olympier, am Leben förderlich teilnehmen. Wenn ein König nicht moralisch und ethisch handelt, leidet die ganze Gemeinschaft und muss entsühnt werden. Jedes Volk steht in dauerndem Kampf mit den anderen und der Sieg wird als Gottesurteil gewertet.

In der Weltreligion der Fischezeit ist nicht mehr das Volk, sondern das Reich oder die Kirche der Rechtszusammenhang, der durch einen einzelnen, den Religionsstifter vertreten wird. Ein Buch bringt das Heil. Der Mensch kann sich nicht mehr auf seine eigene Kraft oder Vision verlassen, sondern soll in der Gemeinschaft der Gläubigen nach Eintracht streben. Das religiöse Recht wird zum Quell und zur Ergänzung des weltlichen, wie in Ostrom nach Justinian und im Islam durch die aus dem Koran abgeleitete Scharia.

Da nur das Ich den Weg zu Gott findet, sind die Strebungen aller drei Religionsarten — Naturreligion des Körpers, Volksreligion der Seele und Weltreligion des Geistes — alle wertvoll. Doch die Vielheit der Bekenntnisse führt zum Krieg und zur gegenseitigen Vernichtung. Ihre Gemeinsamkeit finden sie in dem, was die wirkliche Brücke ausmacht: in der Systemik des Rades, die seit Anfang der Geschichte offenbart wurde.

Das Rad ist biblisch gesprochen die Sprache vor dem Turmbau zu Babel, die Systemik des Gewahrseins. Sie beruht auf den neun Ziffern als Grundlage der genetischen Grammatik. Das neue Dharma ist die Kommunion zwischen den Ichs. Anstelle eines Glaubens, eines Überzeugungssystems oder einer vorgegebenen Ethik muss jeder sein Anliegen erklären und begreiflich machen können.

Die Motivationen werden einem durch die Übungen des Nachtwissens bewusst. Doch die Intentionen beziehen sich von Anfang an auf die Öffentlichkeit, auf die ganze Erde. Stellung, Herkunft und Besitz werden weniger wichtig als die Mitmenschlichkeit in der Kommunikation. Diese beruht in der Wassermannzeit auf der Technologie, die als Noosphäre das Gehirn auf die Erde bringt.

Die Vereinten Nationen, die parlamentarische Demokratie als Grundlage aller Verfassungen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und damit von Ich und Selbst, von Intention und Motivation brachte das Ende der Geschichte als dynamischen Prozess. Die Auseinandersetzung zwischen westlichem Kapitalismus und östlichem Kommunismus war der letzte Ausdruck des Universalienstreites: die Kommunisten vertraten den Realismus, die Kapitalisten den Nominalismus.

Bereits im Frühmittelalter fand Abaelard als verbindendes Glied zwischen beiden Extremen der Sprache als Gattungsbegriffe im Geist Gottes und als bloße Namen der Erfahrung — den Konzeptualismus, der über die Ars Magna des Ramon Lull die Welt der Computer entfaltet hat. Heute wäre das Überleben virtuell kein Problem. Was die biologische Menschheit am Glück hindert, ist der Mangel an Sinn, das heißt an dem Wissen, wozu der Mensch auf der Welt ist und wie sich Streben nach Wohlstand mit Sehnsucht nach dem Heil verbinden lässt.

In der Naturreligion war der Wohlstand von der Besänftigung der Naturgeister, der Ahnen und der Toten abhängig, die durch das Opfer ermöglicht wurde; in der Volksreligion durch die gemeinsame Kampfbereitschaft, in der Weltreligion durch das ausschließliche Bekenntnis. Doch die drei Weltreligionen ergänzen einander: der Buddhismus hat als Ziel den Bodhisattva, der jedem Wesen zum Heil verhilft; der Christ lebt unter dem Gebot der Liebe, das die ethischen Gesetze erfüllt, und der Moslem lebt im Islam die Gottoffenheit — nicht das Schicksal, sondern eine Frage Gottes spricht aus jedem Ereignis, worauf der einzelne existentiell antworten sollte.

Die vierte Religion umfasst nicht nur die Postulate der Weltreligion, sondern auch die kulturelle Volkstradition und die heilende des Schamanismus. Doch darüber hinaus ist das Jüngste Gericht nicht mehr das Ende der Welt mit einem seligen oder verdammten Leben, sondern der Weg zur Neuen Erde ist eröffnet, der Kontakt mit den Ahnen wird zum Verkehr. Dieser Verkehr führt über die Sprache, allerdings nicht als Auseinandersetzung von Meinungen, sondern als Polyphonie der globalen Zivilisation.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD